Aufgelesen
  O Jesus
Christian Nürnberger in SZ vom 23.7.2011

Ein Bestseller feiert den Zölibat, Gottesdienste sollen wieder Mysterien sein, Promis entdecken die Unfehlbarkeit: Was da los ist? Der Hurra-Katholizismus ist los.

In hoffnungslosen Lagen, wenn der Untergang nicht mehr abzuwenden ist, dies aber noch niemand wahrhaben will, findet ein letztes Aufbäumen statt. Irgend jemand vermutet dann, dass sich das Unvermeidliche vielleicht doch noch vermeiden ließe, wenn nur alle Beteiligten einmütig zusammenstünden. In solch einer Lage wird oft die Parole 'Lasst uns daran glauben' ausgegeben. Das ist der Moment, in dem es klüger wäre, sich auf eine alte Indianerweisheit zu besinnen: "Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig' ab." Aber Reiter toter Pferde fühlen sich häufig für viele verantwortlich. Also kann die Losung nur lauten: weiter reiten. Und so bleiben sie sitzen, versuchen sich an der Wiederbelebung ihrer toten Klepper und probieren tausend Dinge, von denen von vornherein klar ist, dass sie nicht funktionieren werden. Das Ergebnis ist rasender Stillstand, Leerlauf in höchster Drehzahl und die Ablenkung vom Absurden durch Ausstoß großer Mengen von Bullshit.

Wie das geht, kann man an den beiden christlichen Kirchen studieren, besonders an der katholischen, die derzeit mal wieder - nach einer beispiellosen Kirchenaustrittswelle als Folge der Missbrauchsskandale - einen 'Dialog' führt, den sie diesmal, weil das Wort schon etwas schimmelt, 'Gesprächsprozess' nennt. Es wird also geredet werden. Jahrelang. Solange wir den Schafen scheinbar zuhören, werden sich die Hirten denken, haben wir unsere Ruhe. Am Ende wird aus Rom die Nachricht kommen: 'Vielen Dank, aber es bleibt alles, wie es ist. Lasst uns weiter daran glauben, dass der Papst immer recht hat. Und denkt immer daran, ihr deutschen Katholiken, dass ihr nur eine kleine unbedeutende Minderheit seid im großen weiten Schoß der Mutter Kirche." Hohn und Spott wird die böse deutsche Welt dann wieder über Rom ausgießen, und der Papst wird sich abermals über jene Kreise und Schichten beklagen, die nur darauf warten, auf ihn einschlagen zu können. Das alles aber könnte man ihm ersparen, wenn ihm endlich jemand sagte: Dein Pferd ist tot. Aber das tut keiner.

Stattdessen zieht der Spiegel-Journalist Matthias Matussek derzeit durch die Lande und findet den Papst toll, den Zölibat cool, das Pillenverbot geil, die Protestanten peinlich, die Messe nach lateinischem Ritus korrekt, sich selbst provokant, den paulinischen Grundsatz, das Weib schweige in der Gemeinde, zukunftsweisend. Er bildet die Speerspitze eines neuen deutschen Hurra-Katholizismus, eines seltsamen Amalgams aus alten, betonköpfigen Traditionalisten, smarten Talkshow-Katholiken und einer neuen Promi-Schickeria von Nina Hagen über die Prinzessin Gloria bis Nina Ruge, die aus der globalen Esoterik- und Spiritualitäts-Apotheke schon vieles probiert haben und es derzeit schick finden, mal die Retro-Produkte der katholischen Manufaktur zu testen.

"Die Zahl der Kirchenmitglieder nimmt zwar ab, aber die Zahl der öffentlichen Glaubensbekenntnisse nimmt zu", staunt der Rektor der Katholischen Akademie Hamburg, Hermann Breulmann, dem es "auf die Nerven" geht, "dass so viele Prominente mit ihrem Glauben hausieren gehen" (Christ & Welt, 24/2011). Das sieht man im Raumschiff Vatikan jedoch ganz anders, wo sich der Kurienkardinal Paul Josef Cordes schier überschlägt mit seinem Lob der Matussekschen Confessiones. Es ist ein Deal zu gegenseitigem Nutz und Frommen. Die Bischöfe wähnen sich durch solch unverhofften Zuspruch wieder im Geschäft, aber das machen die Bekenner, denn sie bekommen Aufmerksamkeit, Einladungen, Lob und hohe Honorare für einfältige Thesen und dürftige Bücher.

Die ganze Farce erinnert an Dürrenmatts Stück "Romulus der Große". Romulus, der letzte römische Kaiser, pleite, hoch verschuldet, das Tafelsilber und die Blätter seines goldenen Lorbeerkranzes an den Antiquitätenhändler Cäsar Rupf verscherbelnd, hat eingesehen, dass Rom am Ende ist. Darum unternimmt er nichts gegen die einfallenden Germanen, lässt seinen Hof verlottern, vertreibt sich die Zeit mit Hühnerzucht und wartet auf das Eintreffen des Germanenfürsten Odoaker, auf dass dieser ihn töte und das germanische Zeitalter einläute. Bis dahin muss er sich mit seinem Hofstaat samt Gattin herumärgern, die noch nicht gemerkt haben, dass Roms Pferd tot ist. Sie fordern ihren Kaiser zu großen Taten auf, zum Weiterreiten.

Zeno, der Kaiser von Ostrom, schwadroniert, wer die Erfolge der Germanen erklären wolle, müsse "tiefer sehen". "Unsere Völker glauben nicht mehr an uns, weil wir an uns selbst zweifeln ... Ohne den Glauben an uns und an unsere weltpolitische Bedeutung sind wir verloren." Julia, die Kaisergattin, stimmt glühend zu. Woraufhin Romulus lakonisch sagt: "Also gut. Glauben wir."

Aber Romulus fragt: "Und jetzt?" "Was, und jetzt?" eifert Zeno. "Wir glauben. Das ist jetzt das Wichtigste." "Ja, schon", antwortet Romulus, "nun glauben wir, aber was soll jetzt geschehen?" "Das kommt von selbst", weiß Zeno. "Wir müssen nur eine Idee finden, die wir dem Schlagwort der Germanen 'Für Freiheit und Leibeigenschaft' entgegensetzen können. Ich schlage vor 'Für Sklaverei und Gerechtigkeit!'" Romulus: "Ich bin mehr für einen praktischen, realisierbaren Wahlspruch. Zum Beispiel 'Für Hühnerzucht und Landwirtschaft.'"

Oder eben, mit Zeno Matussek, für Zölibat und Selbstbestimmung. Für Gleichheit und für Misogynie. Oder Homosexualität ist Sünde, aber Heterosexualität, wenn sie nicht der Zeugung dient, auch. Oder so etwas in der Art.

Romulus erscheint seinem Hofstaat als Versager, als der falsche Mann am falschen Platz. "Rom hat einen schändlichen Kaiser", sagen sie. Erst zum Schluss wird klar, dass er die ganze Zeit über der einzig Ernstzunehmende war. Da, als man ihm Verrat vorwirft, erklärt er sich: "Nicht ich habe mein Reich verraten, Rom hat sich selbst verraten. Es kannte die Wahrheit, aber es wählte die Gewalt, es kannte die Menschlichkeit, aber es wählte die Tyrannei ... Haben wir noch das Recht, uns zu wehren? Haben wir noch das Recht, mehr zu sein als ein Opfer?" Nein, meint er. Darum wartet er auf seine Hinrichtung durch Odoaker. Aber Odoaker pensioniert ihn. So endet Romulus gegen seinen Willen als tragikomisch-kleiner Held statt als tragisch-großer.

Wird so, irgendwann in der Zukunft, auch der Papst enden? Noch herrscht in Rom ein tüchtiger Papst. Noch hält er seinen Hof sauber und die Germanenstämme, die da heißen "Atheismus", "Relativismus", "Hedonismus", "Laizismus", auf Distanz. Noch ist ihm der Gedanke fern, sein Pferd könne tot sein, zumal ihm, wie schon seinem Vorgänger, zwei überraschende Verbündete zu Hilfe kamen, die viel wichtiger sind als die Glaubenshausierer und Jubel-Katholiken: das Brot-und-Spiele-Kolosseum Fernsehen und das von diesem sedierte Volk. Das oberflächliche Medium ist wie gemacht für die Abbildung der prachtvollen römischen Oberfläche. Das spektakelsüchtige Volk denkt zwar nicht daran, sich an Pillen- und Kondomverbote zu halten, lacht über den Zölibat und hat ein beschränktes Vertrauen zu päpstlichen Wahrheiten, aber die bunten Gewänder, die purpurnen Majestäten, der Weihrauch und das Geläut der Glocken sind ihm eine willkommene Abwechslung vom Einerlei auf der Mattscheibe. Das Pferd, auf dem der Papst mit seinen Kardinälen in den Petersdom einreitet, mag tot sein, aber so lange es ihn, unter Purpur verborgen, noch scheinbar trägt und einen so hohen Unterhaltungswert besitzt, darf weiter behauptet werden, es strotze nur so vor Kraft.

Der Papst, der absteigt, wird daher noch eine Weile auf sich warten lassen. Seine Abdankungsworte aber kann man schon mal vorformulieren: "Nicht ich habe die Kirche verraten, sondern die Kirche hat sich selbst verraten. Die Kirche kannte die Wahrheit, aber sie wählte die Gewalt, sie kannte die Menschlichkeit, aber sie wählte die Tyrannei. Sie verbündete sich mit den Mächtigen gegen die Ohnmächtigen. Päpste, Fürstbischöfe und Pfarrherren lebten herrlich auf Kosten ihrer Leibeigenen und Bauern. Sie führten Kriege, verbrannten Ketzer und Hexen, unterdrückten die Wahrheit, bekämpften Demokraten, segneten Kanonen, und als die Nazis herrschten, brüllten sie mit ihnen 'Sieg Heil' oder schwiegen feige."

Die Gefahr, dass ein Papst in Rom so spräche, besteht noch nicht. Aber die Zahl derer, die in einer Welt, in der alles ungewiss ist, immer noch glauben, der Papst verfüge über letzte Gewissheiten, muss nach so einer Geschichte zwangsläufig gegen null tendieren. Weiter schrumpfen wird die Bereitschaft, den päpstlichen Anspruch auf Unfehlbarkeit anzuerkennen. Als anmaßend abtun wird man die kirchliche Stellenbeschreibung des Papstamts als "Stellvertretung Gottes auf Erden". Bezweifeln wird man, dass es mit den römischen Dogmen, von der Jungfrauenschaft Mariens bis zu deren leiblicher Aufnahme in den Himmel, seine Richtigkeit habe.

Der Papst, der daraus die Konsequenzen zöge, könnte herabsteigen vom toten Ross, die majestätischen Gewänder der Macht ablegen und wie ein Mönch in der Kutte zu Fuß weitergehen, zurück an die Weggabelung, wo der heutige Papst, als er noch der junge Professor Ratzinger war, den richtigen Wegweiser gesehen hatte, aber dem falschen gefolgt ist. Dort, er erzählt es in einem seiner frühen Bücher, las er die Geschichte von einem schiffbrüchigen Jesuitenmissionar, der, an den Balken eines gesunkenen Schiffs gebunden, allein auf dem Meer treibt und betet: "Herr, ich danke dir, dass du mich so gefesselt hast. Zuweilen geschah mir, dass ich deine Gebote mühsam fand ... Doch heute kann ich enger nicht mehr an dich angebunden sein, als ich es bin, und mag ich auch meine Glieder eines um das andere durchgehen, keines kann sich auch nur ein wenig von dir entfernen. Und so bin ich wirklich ans Kreuz geheftet, das Kreuz aber, an dem ich hänge, ist an nichts mehr geheftet. Es treibt auf dem Meere."

Der junge Ratzinger erkannte in dieser Geschichte die Situation des Glaubenden und der Kirche von heute. Nicht die im Lauf der Zeit immer verstiegener und absurder anmutenden Dogmen tragen die Kirche, nicht das Papstamt, nicht das christlich angestrichene Heidentum namens Volkskatholizismus, nicht die weihrauchgeschwängerten Pilgerreisen, Wallfahrten, Prozessionen, nicht das Geschwätz der Hurra-Katholiken und Feuilleton-Katholizisten, nicht die lateinische Messe, nicht die Wellness-Patres, aber auch nicht das Schaulaufen auf protestantischen Kirchentagen tragen den Glaubenden von heute, sondern ein Balken, an nichts geheftet, treibend auf dem Meere.

Dogmatische Abrüstung wäre daher angesagt. Dieser noch unbeschrittene, nicht zu Pferd, sondern nur zu Fuß gangbare Weg des "geistlich Armen" ist die vermutlich letzte Chance beider Kirchen. Ihn zu gehen, hieße: Vom Dogma schweigen, aber den Willen Gottes tun, also die Armut bekämpfen, Unterdrückten zur Freiheit verhelfen, der Wahrheit Geltung verschaffen, Frieden stiften, Kranke heilen, die Mächtigen kritisieren, falschen Göttern den Gehorsam kündigen. Und hoffen, dass sich dann erfüllt, was verheißen wurde: Wer den Willen Gottes tut, wird Gott schauen.