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Die nachgeholte Reformation
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Brasilien, Lateinamerika und Papst Benedikt XVI.
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Von Johannes Röser |
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Über zwei Millionen Menschen haben Papst Benedikt XVI. bei seiner Reise
ins größte katholische Land der Welt zugejubelt. „Die Kirche wankt
nicht", rief er einer stets begeisterten Menge zu. Und machte sich und
den Gläubigen Mut. Denn die Kirche wankt doch, in Brasilien nicht
minder als bei uns. Niemand weiß das besser als der Papst. Stärker noch
als bei den früheren fünf Aufenthalten von Johannes Paul II. wurde beim
jetzigen Besuch die tiefe Zerrissenheit jener Gesellschaft deutlich: in
einem Schwellenland zwischen archaischem Elend und topmoderner
Hochleistungs-Technologie, zwischen verwurzeltem Magie-Aberglauben und
radikalster Entmythologisierung.
Benedikt XVI. sei weniger ein Mahner. Er wolle mehr befreiend das
Schöne des Christseins und Katholischseins den Menschen vor Augen
stellen. Das unterscheide ihn von seinem Vorgänger. So war in vielen
Zeitungen zu lesen, als neulich zum achtzigsten Geburtstag eine
Zwischenbilanz seiner ersten beiden Amtsjahre gezogen wurde. In
Brasilien allerdings knüpfte Benedikt XVI. nahtlos an den Moralisten
Johannes Paul II. an. Die Sexualität wurde im sprichwörtlich
erotisierten und erotisierenden tropischen Brasilien zu einem
„Topthema". So rief er bei einem Treffen mit mehreren zehntausend
Jugendlichen diese energisch zu Enthaltsamkeit und Keuschheit auf: „Es
ist notwendig, sich jenen Medien entgegenzustellen, die die Heiligkeit
der Ehe und der Jungfräulichkeit vor der Ehe lächerlich machen." Als
„freie und verantwortliche Männer und Frauen" sollten sie das Leben
fördern, gewissenhaft arbeiten gehen, nicht faulenzen, sich nicht von
Reichtum blenden lassen, Materialismus und Korruption meiden und sich
nicht dem geheimen Verführer Droge hingeben. „Die Jahre, die ihr jetzt
verlebt, sind die Jahre, die eure Zukunft vorbereiten... Lebt mit
Begeisterung, mit Freude, aber vor allem mit Sinn für Verantwortung...
Es kann kein Glück ohne Treue zwischen den Partnern geben."
Ist solche Akzentsetzung weltfremd? Ja und nein. Denn tatsächlich sind
die kirchlichen Vorstellungen von Sexualität der überwältigenden
Mehrheit der brasilianischen Jugend - und der brasilianischen
Erwachsenen - völlig egal. Aber man kann auch sagen, daß Benedikt XVI.
hier einen „Knackpunkt" der brasilianischen Kultur- und
Sittengeschichte seit Beginn der Kolonialzeit aufgegriffen hat: Denn
die sexuelle Freizügigkeit hat eine jahrhundertealte Tradition, seit
sich die ersten vierzig bedeutenden Familien, die lange
politisch-ökonomisch-kulturell machtvoll bestimmend waren, an der
Nordostküste niederließen. Die „gut katholischen" Oberhäupter dieser
Familien zeugten schon recht bald mit den indianischen Eingeborenen und
später mit den Negersklaven Nachwuchs, ganz unbeeindruckt von
kirchlicher Moral, bischöflicher Meinung oder Ansichten der
Fazenda-Kapläne, die im übrigen stets vom Großgrundbesitzer-Patron
abhängig waren. Der Patriarch sorgte für den Zusammenhalt seines
„Großfamilien"-Reichs und für dessen volksfromm religiöse Erziehung. So
entstand bereits von Anfang an jene „typisch" brasilianische
Mischlingsgesellschaft, in der es angeblich tolerant zugeht, wo es
keine offizielle Rassendiskriminierung gibt, die sich jedoch
unterschwellig nur umso feiner und heftiger als soziale Diskriminierung
auswirkt.
Sex in Herrenhaus und Sklavenhütte
Über die Begründung der brasilianischen Kultur durch den engen
agrarischen Zusammenhang von Katholizismus, freizügiger sexueller
Lebensweise und Feudalstruktur in „Herrenhaus und Sklavenhütte" gibt es
hervorragende sozio-historische Studien; am eindrücklichsten immer noch
die des Soziologen und Anthropologen Gilberto Freyre - sein berühmtes
Buch gleichen Titels. Der „Vater" der weißen Großfamilie war als
Sklavenbesitzer zugleich der „Familienvater" aller auf seinem Besitz
angesiedelten Leute - mit abgestufter Verantwortung, aber mit
Verantwortung. Dies ist nicht zu idealisieren, und es ist auch nichts
zu harmonisieren. Doch infolge der Abschaffung der Sklaverei und mit
der Verstädterung gingen auch die ausbalancierenden patriarchalischen
Stabilisatoren verloren, die einst immerhin sogar für die „Bastarde"
einen gewissen Versorgungsschutz vorsahen. Nach Auflösung der
hierarchisch-feudalen Sozialstruktur trat nichts Vergleichbares an ihre
Stelle. Der Staat war sozial schwach und blieb es, trotz vieler
Militärdiktaturen. Die Dynamik der Umwälzungen beschleunigte die neue
„Familienlosigkeit", ohne Väter.
Max Weber in Brasilien
Die Kulturgeschichte prägt Lebensgefühle und Lebensstile nachhaltiger
als jede Moral oder Religion. Der Katholizismus Brasiliens mit seiner
eigenartigen Mischung aus volksfrommer Inbrunst und populärer Laxheit
hat einen ganz anderen Weg genommen als etwa der Katholizismus Europas,
der seit der Reformation immer wieder mit einem
puritanisch-rationalistischen Protestantismus strenger Ordnung
konfroniert war. Auf der „puritanischen Klaviatur" - wenn auch in
katholischem Kontext - hat Papst Benedikt XVI. in der größten
„deutschen Industriestadt" São Paulo zu spielen versucht. Er wendete
sich zum Beispiel an die brasilianische Elite aus Oberschicht und
gehobener Mittelschicht: Sie sollten Vorbilder sein. „Wer eine führende
Rolle in der Gesellschaft übernimmt, muß sich darum bemühen, die
sozialen Konsequenzen der eigenen Entscheidungen vorauszusehen, die
direkten und die indirekten, die kurzfristigen und die langfristigen.
Er muß für das höchstmögliche Gemeinwohl arbeiten, anstatt seinen
persönlichen Profit zu suchen."
Natürlich bewirken Appelle wenig. Doch weiß Benedikt XVI., der stets
eine Verbindung von Glauben und Vernunft sucht, daß unter den
Intellektuellen Lateinamerikas seit längerem ein großer Disput geführt
wird darüber, warum das protestantische Nordamerika ökonomisch und
politisch so erfolgreich ist, während das katholische Lateinamerika
seit einem halben Jahrtausend mehr oder weniger stagniert, dahindämmert
in einem „Labyrinth der Einsamkeit", wie es der mexikanische
Schriftsteller Octavio Paz bewegend beschrieben hat: zwischen
hochfliegenden Himmelsträumen und abgrundtiefer Lethargie. Ist der
Katholizismus mit seinen maßlos universalen Welteroberungsträumen bei
gleichzeitiger Antriebs- und Disziplinlosigkeit an der Misere des
Subkontinents ursächlich schuld? Der Papst hat es nicht gewagt, diesen
irritierenden Verdacht anzusprechen. Aber er steckt hinter der
erheblichen Unruhe und Unzufriedenheit mit dem angestammten
Machtmonopol der katholischen Kirche und ihrer Religion. Nicht wenige
Lateinamerikaner denken inzwischen so: Das Katholische hemme den
Fortschritt, während das Evangelische die Moderne beschleunige. Das
wiederum treffe nicht nur auf jene besondere Form des Calvinismus zu,
in dessen Vorherbestimmungslehre bereits Max Weber den entscheidenden
Erfolg des US-Kapitalismus witterte: Wer Erfolg habe im Leben, wer
reich sei und glücklich, könne daran erkennen, daß er zum ewigen Heil
schon auserkoren ist. Im Gegenzug beschleunigte der
Prädestinations-Glaube die irdische Tüchtigkeit, Sparsamkeit und Askese
als Urtugenden des Kapitalismus und seiner Investitionskraft. Denn es
ist nur allzuverständlich, daß der Mensch seinem Seelenheil unbewußt
ein wenig mit auf die Sprünge helfen möchte, um aus dem
gewinnbringenden Ertrag zu entnehmen, daß Gott einen tatsächlich liebt
und ewigen Gewinn schenkt.
Calvins verspätete Prediger
Lateinamerika hatte den Sprung in den Zirkel dieser seltsamen Dialektik
aus Kapitalismus und Glaube lange nicht geschafft - bis der
nordamerikanische Protestantismus ins Land kam. Jetzt möchten nicht
wenige Bürger das Versäumte nachholen. Das ist der entscheidende Grund,
warum die Menschen zwischen Rio Grande und Feuerland in solchen Scharen
die katholische Kirche verlassen, deren Monopol brechen und in die von
Bischöfen und Priestern abschätzig so bezeichneten Sekten abwandern,
also in protestantisch-charismatisch geprägte religiöse Gruppen,
Gemeinschaften und Freikirchen pfingstlich-evangelikaler Orientierung.
In Brasilien soll bereits ein Viertel der 185 Millionen Einwohner zu
diesen Gemeinschaften übergewechselt sein.
Es hilft dem katholischen Lehramt nicht, einfach dagegen zu
polemisieren und mehr missionarische Widerstandskraft zu verlangen.
Denn nicht wenige Menschen sind enttäuscht darüber, daß ein fünfhundert
Jahre alter, vielfach immer noch kolonialistisch-volksfromm und
magisch-materialistisch geprägter Katholizismus das Leben bestimmt,
indem er auf der Stelle tritt. Wenn das Heil nicht von innen kommt,
soll es von außen kommen. Das pluralistische Angebot ist heutzutage
verlockend da. Was liegt näher, als die Hoffnung im „Kontinent der
Hoffnung" auf jene zu richten, die von den Erfolgreichen kommen, aus
den USA? Während der traditionsgebundene Katholizismus in der
Wiederkehr des Gleichen verharrt, erwarten nicht wenige Innovation und
Fortschritt von einer „Geistreligiosität", die den stofflich-dinglichen
Wunder-Aberglauben abgelegt hat. Wer nicht rückständig, wer modern sein
will, „muß" einfach nordamerikanisch fromm sein. Das verschafft
Prestige.
Wer hat 500 Jahre lang die Elite erzogen?
Ausprobieren war schon immer ein Merkmal brasilianischer
Volksreligiosität: pragmatisch, nützlich fürs Wohlergehen. Keine
intellektuelle Angelegenheit. Wenn der eine Heilige nicht hilft, sucht
man sich einen anderen. Was bisher im System Katholizismus
okkultistisch verankert war - da und dort verknüpft mit der
Parallelwelt der afrobrasilianischen Religionen wie Candomblé, Macumba
oder Umbanda -, soll nun der Protestantismus pfingstlerischer Prägung
befriedigen: nicht mehr spiritistisch-primitiv, sondern
spiritualistisch-anspruchsvoll. Nicht mehr Magie beschwört den Geist
herbei, sondern der Heilige Geist selbst erweckt den, der seine Sünden
bereut und umkehrt. Mit dem alten Materialismus „katholischen"
Aberglaubens hat die gereinigte, verklärte Geisterfülltheit der
charismatischen Religion nichts mehr zu tun. Den Geist hat man
weiterhin, aber anders.
Dazu kommt, daß die neue pfingstlerisch-evangelische Frömmigkeit eine
sehr einfache, klare Fundamentalmoral verkündet, die jeder erfüllen
kann. Die „Zehn Gebote" lassen sich im Alltagsleben konzentrieren auf
fünf wesentliche Verhaltensweisen: Schlag Frau und Kinder nicht! Geh
nicht fremd! Sauf nicht! Schaff anständig! Bring das Geld heim! Das
versteht jeder. Das erweist sich für den, der sich daran hält, als ein
sehr unmittelbarer und effektiver Weg aus dem Elend. Ist ein derart
protestierender „Protestantismus", der den Widerstand gegen die
allgegenwärtige Versuchung von außen wie von innen lehrt, unzeitgemäß?
Nein, er ist in der Sicht von Menschen, die damit Glück und Erfolg
erreichen, schlichtweg wirkungsvoll, fortschrittlich.
Der katholischen Kirche Brasiliens - und nicht nur ihr - täte es gut,
statt den „Proselytismus" der „Sekten" anzuprangern, in sich zu gehen
und sich zu fragen, was man selber allzulange falsch gemacht hat, warum
man plötzlich als antiquiert wahrgenommen wird. Die „Frankfurter
Allgemeine" erklärte das Problem so: „Wer hat über Jahrhunderte die
lateinamerikanischen Eliten in den Schulen und Universitäten erzogen,
wenn nicht die katholische Kirche? In welchem Kontinent aber ist die
katholische Soziallehre - gemessen an der Zahl der Katholiken - so
wirkungslos geblieben wie in Lateinamerika?"
Offenkundig gibt es in ganz Lateinamerika, das nie eine Reformation
erlebte wie Europa, nun Bestrebungen, jene abendländischen
Emanzipationsprozesse nachzuholen, wenn auch mit fünfhundertjähriger
Verzögerung und unter anderen Voraussetzungen. Lateinamerika kann nicht
auf das protestantische Landeskirchentum unserer Prägung zurückgreifen,
da diese klassischen evangelischen Formationen dort nur in Gestalt von
Minderheitenkirchen einstiger Einwanderer - Lutheraner oder
calvinistische Reformierte - auftauchen. Der Protestantismus
Lateinamerikas zeigt sich in der neueren, freischwebenden Gestalt der
nordamerikanischen oder bereits universal inkulturierten
Pfingstkirchen. Das Interessante dabei ist, daß diese im Gegensatz zum
traditionellen Volkskatholizismus den Gläubigen als Einzelnen - und
nicht eingebettet ins Kollektiv - wahrnehmen, als individuell
Erweckten. Dieser hat eine persönliche Umkehr- und Rettungserfahrung
gemacht, zu der er sich bekennen muß. Dieses individuell einzigartige
Erlebnis kann er als Einzelpersönlichkeit in die feiernde Gemeinschaft
einbringen.
Hinzu kommt, daß sich der jahrhundertelange Priestermangel
Lateinamerikas nun im Zeitalter der Individualisierung doch rächt. Es
reicht nicht mehr, daß ein Pfarrer oder Fazenda-Kaplan von Zeit zu Zeit
vorbeikommt, nach dem Rechten sieht, die Kinder tauft, die Beichte
abnimmt, das Sakrament spendet und predigt, während sonst der Patron
dafür sorgt, daß man seine Heiligen verehrt, betet, Wallfahrten macht
und volksfromm-magische Wunderpraktiken pflegt. Während bei den
charismatisch orientierten Gruppierungen fast an jeder Straßenecke ein
„Tempel" entsteht und ein „Minister" überall bereitsteht, um sich
persönlich um seine Leute zu kümmern, ist der katholische Priester
oftmals weit weg. Jüngste Berechnungen haben ergeben, daß in Brasilien
ein katholischer Geistlicher auf rund 7500 Gläubige kommt. In Italien
beträgt das Verhältnis eins zu tausend. Die Gesamtzahl der katholischen
Welt- und Ordenspriester in Brasilien - sehr viele kommen zudem aus dem
Ausland - liegt bei 18000. Gemessen am italienischen Standard bräuchte
man mindestens 140000 Seelsorger. Und selbst dann garantiert Quantität
noch nicht die notwendige Qualität der Glaubensbildung, wie man aus den
italienischen Säkularisierungstrends ebenfalls weiß.
Das schöngeredete Problem: Priestermangel
Seit einem halben Jahrhundert werden in Lateinamerika Vorschläge zur
Lockerung der Zölibatspflicht gemacht. Alles ist bisher vom obersten
Lehramt der katholischen Kirche abgeblockt worden. Hier in Europa heißt
es immer wieder abwiegelnd, das seien doch eh nur typisch deutsche
Probleme. Jeder, der Lateinamerika, wo inzwischen über die Hälfte aller
Katholiken der Welt lebt, auch nur einigermaßen aus eigener Anschauung
kennt, weiß, daß der Priestermangel dort sich zu einer religiösen
Katastrophe sondergleichen auswächst.
Papst Benedikt XVI. hat bei seiner Brasilien-Reise dazu geschwiegen
beziehungsweise nur die Tradition beschworen - und Beten eingefordert,
verbunden mit Worten der Einschärfung. Die Bischöfe ermahnte er, für
einen „Qualitätssprung" im kirchlichen Leben zu sorgen. Die Bischöfe
müßten als „treue Diener des Wortes ohne verkürzende Sichtweisen und
Verwirrung" wirken. Sie sollten „strikte Wachsamkeit" über die Wahrung
des Glaubensguts ausüben, aufpassen, daß keine rationalistischen
Ideologien sich dessen bemächtigen. Ebenso müßten die liturgischen
Normen unbedingt eingehalten werden. Außerdem forderte der Papst die
Bischöfe auf, sich mit kompetenten Mitarbeitern zu umgeben. Es reiche
nicht, bloß Glaubenserfahrungen weiterzugeben. Das kann man als Mahnung
verstehen, die Vernunft des Glaubens zu bedenken. Es ist vermutlich
aber ebenso eine Kritik an manchen Laienhelfern und Laien-Vorstehern
christlicher Basisgemeinschaften, die immer dort stark waren und sind,
wo die Bischöfe Initiativen der Befreiungstheologie unterstützt hatten.
Die Früchte der Befreiungstheologie
Allerdings hat diese Bewegung seit der allgemeinen Ernüchterung über
sozialistische Modelle - insbesondere seit dem Zusammenbruch des
Ostblocks - erheblich an Aufmerksamkeit verloren. Das heißt nicht, daß
die Befreiungstheologie gesellschaftlich bedeutungslos geblieben wäre.
Im Gegenteil: Die Tatsache, daß sich in breiten Bevölkerungsschichten
Lateinamerikas ein demokratisches Bewußtsein gefestigt und daß sich im
Durchschnitt die ökonomische Lebenssituation in den letzten Jahren
leicht gebessert hat, ist den befreiungstheologischen Anstrengungen
ganz wesentlich, ja entscheidend, mitzuverdanken. Und vor allem auch
den vielen mutigen und opferbereiten Gläubigen unter christlichen
Laien, Ordensleuten, Priestern, Bischöfen, die als wahre Märtyrer für
soziale Gerechtigkeit drangsaliert, gefoltert, umgebracht wurden. Papst
Benedikt XVI. hat es leider versäumt, dieser vielen tausend Menschen
mit einem klaren und mutigen Wort in Gebet und Liturgie zu gedenken. Es
ist ferner ein Skandal europäischer Überheblichkeit und
journalistischer Blasiertheit, daß jene religiös-spirituell inspirierte
realpolitische und kulturelle Erfolgsgeschichte für Lateinamerika jetzt
nachträglich schlechtgeredet wird, als ob es sich dabei nur um
sozialistische Illusionen und Träumereien gehandelt habe. Andererseits
stimmt es natürlich: Es herrscht auch Frustration, weil der große
Durchbruch trotz aller Mühen ausblieb. Die Ernüchterung zeigt sich in
Brasilien besonders. Viele Befreiungstheologen und Intellektuelle
wenden sich vom jetzigen Staatspräsidenten Luis Inácio da Silva ab, den
sie einst als Gewerkschaftsführer und Vorsitzenden der Arbeiterpartei
zum politischen „Messias" Brasiliens stilisiert hatten. Wie so oft holt
die Realität theologische Visionen ein - und überholt sie. Wie darauf
reagieren?
Joseph Ratzinger hatte stets ein sehr distanziertes, strikt ablehnendes
Verhältnis zur Befreiungstheologie wie zur politischen Theologie
überhaupt. Daran hat sich bei ihm auch als Papst nichts geändert. In
vielerlei Hinsicht ist ihm Lateinamerika, wie diese Reise zeigte, im
Tiefsten fremd geblieben. Benedikt denkt und glaubt als
„hellenistischer" Europäer, als Intellektueller inkulturiert in einen
bayerischen Volkskatholizismus, der die Vernunft sucht im Horizont
eines von vielen ganz selbstverständlich geteilten Glaubens. Zur
befreiungstheologischen Thematik, die einmal Millionen Menschen
aufgewühlt hatte, erklärte er nur am Rande: „Ich würde sagen, daß sich
mit dem Wandel der politischen Situation auch die Situation der
Befreiungstheologie tiefgreifend verändert hat. Jetzt ist offenkundig,
daß die einfachen chiliastischen Vorstellungen verfehlt waren, die
unmittelbar, als Folge der Revolution, die vollständigen Bedingungen
für ein gerechtes Leben versprachen. Das weiß heute jeder. Jetzt ist
die Frage, wie die Kirche im Kampf für die nötigen Reformen präsent
sein kann, im Kampf für gerechtere Lebensbedingungen."
Und wie steht es um den Kampf für Reformen im Glauben selbst? Auch nach
dem Papstbesuch ist nicht erkennbar, wie sich die katholische Kirche in
Brasilien und Lateinamerika der Herausforderung von Moderne und
Postmoderne zugleich stellen will. Da gibt es weiter auf der einen
Seite die millionenfach genährte volkstümliche Wundersucht, die durch
des Papstes Heiligsprechung des Franziskaners Antonio Galvao bestätigt
wurde, jenes Seelsorgers des 18.Jahrhunderts, der predigend und heilend
durchs Land zog, der sich den Armen und Kranken zuwendete. Die Legenden
des Glaubens und des Aberglaubens werden weitergetragen: etwa daß er an
mehreren Orten gleichzeitig anwesend sein konnte; daß er künftige
Ereignisse vorhersah und beim Beten über dem Boden schwebte. Und auch
heute noch werden an die von ihm Heil und Heilung erhoffenden Menschen
Gebetszettelchen ausgegeben, zu Pillen gedreht, die man nur schlucken
muß, damit das Anliegen erhört werde...
Gegenreformation löst die Probleme nicht
Auf der anderen Seite erreichen uns Meldungen, daß die Brasilianerinnen
und Brasilianer, die keiner Religion mehr angehören, die sich bewußt
als Atheisten verstehen, bereits an die zehn Prozent der Bevölkerung
ausmachen, insbesondere im aufgeklärten, laizistischen Bürgertum. Und
nicht nur sie, auch manche frommen Pilger, die beim Marienheiligtum
Aparecida den angesengten Rennhandschuh des Formel-1-Piloten Ayrton
Senna gesehen haben, den dieser als Dank für einen überstandenen
schweren Unfall niedergelegt hatte, fragen sich skeptisch, was das
alles eigentlich noch mit wahrer Religion zu tun hat - wenn derselbe
Senna in Imola dann doch ums Leben kam.
Michael P.Sommer vom Lateinamerika-Hilfswerks „Adveniat" sagte neulich:
„Säkularisierung ist kein auf die Industriestaaten beschränktes
Phänomen. Traditionsgebundene und traditionsgestützte Wertmuster lösen
sich auch in Lateinamerika zunehmend auf. Vielerorts geht dies mit
einer starken Emanzipation von christlichen Werten einher."
Die nachzuholende Reformation hat Brasilien und ganz Lateinamerika
längst eingeholt. Im Zuge der globalen Säkularisierung rückt die Neue
Welt uns, der Alten Welt, wieder nah und näher. Der Papstbesuch in
Brasilien, wo jetzt die Versammlung des lateinamerikanischen
Bischofsrates tagt, hat den Blick auf eine tiefgreifende Erschütterung
der katholischen Kirche, ja des Christentums überhaupt gelenkt. Der vom
Papst beschworene „Qualitätssprung" kommt ohne Glaubensreform und ohne
Kirchenreform nicht aus. Jede Reformation hat Gründe. Ob diesseits oder
- zeitlich verzögert - jenseits des Atlantiks: Bloße Gegenreformation
beseitigt sie nicht. Auch das müßten Christen - und Katholiken - aus
der Geschichte gelernt haben.
CiG 21/2007
Eine Gratisausgabe der Wochenzeitschrift "Christ in der Gegenwart" schickt Ihnen gern zu:
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