Das Kreuz mit dem Kreuz

von Willi Mitzkewitz

Was ist das für ein Gott, der durch die Sünden und die Vergehen der Menschen so beleidigt wird, daß er seinen Sohn Jesus Christus am Kreuz als blutiges Opfer hinrichten läßt, um Genugtuung zu erhalten? fragen heute viele Menschen. Nach den Millionen und Abermillionen Toten der Weltkriege, nach dem industriellen Mord an sechs Millionen Juden in der Shoa, nach der Zerstörung vieler Länder in den Kriegen, den Morden in den Bürgerkriegen der jüngsten Vergangenheit wirkt eine Botschaft, die einen Sündenbockmechanismus propagiert, nicht mehr befreiend. Der gewaltsame Tod eines Menschen kann nach unserem Verständnis nicht Mittel der Erlösung sein.

Wenn überhaupt versteht der heutige Mensch nur eine Botschaft vom bedingungslos liebenden Gott, der die Greueltaten der Menschen in seiner vergebenden Liebe immer neu auffängt und verwandelt. Zu allen Zeiten versuchten und versuchen Menschen, den Tod Jesu am Kreuz zu deuten und einen Sinn zu geben. Wir wollen einigen Deutungswegen in Kürze nachgehen.

- In einem ersten Deutungsversuch wird der Schwerpunkt nicht auf das Geschehen auf Golgota allein gelegt, sondern das ganze Leben Jesu, sein Reden und Handeln besitzen Heil für die Menschen. Jesus bleibt der Spur seines Lebens treu, auch als sich die Katastrophe – der Tod am Kreuz – anzeigt. Er ist der “getreue Knecht” – im Sinne des Gottesknechte des Propheten Jesaja – der seiner Berufung treu bleibt.

- In Jesus Christus steigt Gott in die Leidensgeschichte der Menschheit ein. Die Inkarnation vollzieht sich bewußt bei den Armen und Ausgestoßenen. Jesus wird Mensch nicht bei den Reichen und Großen der Geschichte, sondern bei den Unterdrückten und Ausgegrenzten. Gott macht in Jesus Christus die Geschichte der leidenden Menschheit zu seiner Geschichte. Gott stellt sich auf die Seite der Leidenden und wird ihnen gleich; er entmachtet sich gleichsam selber. In dieser Tatsache kann das Hoffnungspotential für alle Leidenden in der Geschichte liegen. Gott wird im Sterben Jesu solidarisch mit den Menschen.

- In dem Gedanken von Jesu “Pro-Existenz” läßt sich der überkommene Opfergedanke neu interpretieren. In Jesus Tod am Kreuz, in der Weise wie Jesus den Tod auf sich nahm und starb, kann uns etwas von der unbedingten Liebe Gottes zu uns aufgehen, daß das Wesen Gottes voraussetzungsfreie Liebe ist. Denn sein Tod geschah zu unserem Heil, “ uns zugunsten”. “So sehr hat Gott die Welt geliebt,...”, daß er die Gewaltstrukturen, die Ergebnis unserer Schuld und Versagen sind, nicht durch Gegengewalt vernichtete, nicht die Welt in einem Inferno zu Grunde gehen ließ, sondern in seiner Zusage in Jesus Christus den Menschen eine neue Zukunft gab.

- Nach zeitgenössischer Auffassung war durch Jesu Hinrichtung am Kreuz erwiesen, daß er ein von Gott Verfluchter war. Nicht nur seine Person, sondern auch seine Botschaft und sein Handeln waren damit in der Öffentlichkeit diskreditiert. Die Hoffnungen, die er mit seiner Botschaft erweckt hatte, waren vernichtet. Er, der den Verlorenen seines Volkes einst Gott nah gebracht hatte, war selbst zum Verlorenen geworden.

Ostern ist die göttliche Antwort auf diese Situation. In der Überlieferung alttestamentlicher Bekenntnisse wird Gott als der Gott der Väter gepriesen, der Jesus nicht im Tod gelassen hat. Hiermit gibt die Gemeinde ihre Erfahrung Ausdruck, daß Gott den von Israel und der römischen Besatzungsmacht verworfenen Jesus nicht im Tod gelassen hat, sondern ihn mit seiner Botschaft ins Recht gesetzt hat. Gott stellt sich in Jesus ein für allemal auf die Seite der Verlorenen. Jesus ist für die Glaubenden zur alles entscheidenden Heilsgestalt der Geschichte geworden.

- Jesus erfährt in seinem furchtbaren Sterben am Kreuz die Angst und Verlassenheit jedes Menschen im Sterben. In seinem Ruf am Kreuz “mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen” erfährt er die tiefste Gottesverlassenheit. Gott, den er Abba nannte, entzieht sich ihm, läßt ihn ins Nichts stürzen. “In allem wurde er den Menschen gleich”.

- Der Hymnus im Philipperbrief beschreibt einmal die vorweltliche göttliche Existenzweise Jesu und seinen Weg in die Geschichte, in die Sklavenexistenz der Menschen, gehorsam bis zum Tod. Wegen seines Gehorsams wird er von Gott zum Herrn über alle Mächte eingesetzt und für uns zum Anlaß der Hoffnung:

“Nein: Ausgeleert hat er sich selbst,

Knechtsgestalt hat er genommen;

In Menschengleichheit trat er auf

Und ward in der Art als Mensch erfunden.

So hat er sich niedrig gemacht,

ward gehorsam bis zum Tod

- dem Tod am Kreuz.

Darum hat Gott ihn überhoch

Und gab zugnaden ihm den Namen,

der über alle Namen ist.

Auf daß in Jesu Namen sich beuge aller Knie:

Himmlischer und Irdischer und Unterirdischer,

und bekenne alle Zunge:

Herr ist Jesus der Messias

zu Gottes, des Vaters, Verherrlichung.”