Der 11. September oder die Gottesfrage
Wolfgang Sabel
Not lehrt beten, Angst macht fromm. Am 1. November 1755 brachte mit 30 000 Toten das Erdbeben von Lissabon, am 11. September 2001 mit 3300 Toten der Terroranschlag in New York ein bis dahin festgefügtes Weltbild zum Einsturz. So wie die ersten Menschen Tiere an die Wand malten, Zeichen in den Fels ritzten, um das Unheimliche, Übermächtige zu bannen und zu besänftigen, so füllten sich nach der Katastrophe vom 11. September Kirchen, Synagogen und Moscheen. Erschrockene, verängstigte, unsicher gewordene Menschen wollten Antworten auf Fragen, auf die es keine Antworten gab.
Katastrophen, als unvorhersehbares Unheil, wecken Angst vor dem Bedrohtsein, dem Ausgeliefertsein, dem Übermächtigen, dem Unvorhersehbaren, dem Schicksalhaften. Katastrophen graben und wühlen in uns und legen in der Urangst, seit Millionen von Jahren in uns vergraben, den Ursprung des Religiösen frei. Ein religiöses Bedürfnis wird losgetreten und will befriedigt werden. In allen erdenklichen Illusionen, Mythen, Utopien, Ideologien und religiösen Glaubenssystemen wird nach Antworten gesucht, die letztlich unbefriedigend bleiben, weil sie fast immer im Transzendenten enden. Fraglich bleibt allerdings, ob einem Glauben an eine Transzendenz eine Realität entspricht. Das, was die einen eine mit Sicherheit zu erwartende Wirklichkeit nennen, halten andere für eine Illusionen. Sie warnen unter Hinweis auf die bisherige Menschheitsgeschichte vor den möglichen Folgen eines Anspruchs, über eine Glaubensgewißheit zu verfügen, die über die absolute Wahrheit Bescheid wissen will.
Alle drei monotheistischen Religionen: Judentum, Christentum und der Islam, die ihren Ursprung im Gott des Abraham sehen, beanspruchen für sich diesen Besitz der absoluten Wahrheit. Wenn aber eine dieser Religionen glaubt, im Besitz der einzig wahren und rechten Religion zu sein, haben folglich die übrigen die falsche Religion. Deswegen ist der Monotheismus von Natur aus intolerant und trägt ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotential in sich, was sich an der Geschichte aller drei Religionen aufzeigen läßt. Jede dieser Religionen zieht bis zum heutigen Tag eine ungeheure Blutspur hinter sich her. Allerdings sieht jeder diese Blutspur nur bei den anderen, bei sich selbst nicht. Die eigene Schuld wird heruntergespielt und wegtheologiesiert.
Mit der Prämisse, die fremden Religionen zwar zu respektieren, aber ihren Glaubensanspruch nicht zu akzeptieren, kommen wir im Dialog der Religionen nicht weiter, und sie führt lediglich zu einem Status quo in der monotheistischen Ökumene. Judentum, Christentum und der Islam, als abrahamitische Religionen vom gleichen Gott des Abraham ausgehend, haben Anteil an der absoluten Wahrheit, die letztlich, wenn sie es wirklich gibt, nur in der für uns nicht erreichbaren Transzendenz zu finden ist. Trotzdem hat jeder von ihnen für sich die wahre Religion. Der Monotheismus des Abraham wurde durch die Eigenart der jeweiligen Kultur geformt und so kulturspezifisch verändert. Wir Christen sollten nicht vergessen, daß die urchristliche Idee durch die heidnische Philosophie des Hellenismus, die wir heute weitgehend nicht mehr nachvollziehen können und die uns fremd geworden ist, in ihrer Substanz wesentlich verändert wurde.
Wenn aber der Christ für seine Religion den Besitz der Wahrheit beansprucht und er dies durch seinen Glauben legitimiert, muß er folgerichtig auch akzeptieren, daß der Jude und der Muslim wahrhaft glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, da er dies ebenfalls durch seinen Glauben legitimiert. Religion hat ihre Legitimation im Glauben und der Glauben in der Transzendenz. Aber alles, was in den transzendenten Raum gehoben wird, entzieht sich der Vernunft und wird kritikimmun.
Katastrophen lassen angesichts existentieller Krisen innehalten, nachdenken, den eigenen religiösen Status überprüfen, ihn abklopfen auf seine Festigkeit und Gültigkeit. Dies führt zur Hinterfragung des tradierten Gottesbildes, mit dem wir bisher dahinlebten. Beim näheren Hinsehen und intensiven Fragen stellen wir jedoch fest, daß dieses Gottesbild unstimmig ist und sich mit unseren Erfahrungen, Kenntnissen und Wissen nicht mehr deckt. Wo war dieser allgütige, liebende, allmächtige, allwissende Gott für die Menschen, die in diesen Katastrophen blieben?
Man muß sich immer wieder vor Augen führen: Zwischen dem Erdbeben von Lissabon und dem 11. September liegen u. a. Hiroshima, Nagasaki, Auschwitz und unendlich viel anderes Leid, das zum Himmel schreit. Realitäten, die das tradierte christliche Gottesbild mit aller Härte bis zum heutigen Tag in Frage stellt.
Die Theologen sind, wenn es darum geht, ihr Gottesbild zu verteidigen, oft bemerkenswert findige Leute. Eine Theologie jedoch, die meint, auf alles eine Antwort geben zu müssen, verdächtigt sich, sich in die eigene Tasche zu lügen. Ehrlicher wäre es für die Prediger des 11. September gewesen, offen einzugestehen, auf das, was geschehen war, keine Antwort zu haben. Eines ist sicher, seit dem 11. September hat unser christliches Gottesbild nicht nur einen weiteren breiten Riß bekommen, beim Einsturz der Zwillingstürme von Manhattan ist das tradierte christliche Gottesbild zu Staub geworden.
Wir sprechen seit Jahren von einer Gotteskrise, in Wirklichkeit ist es die Krise des von Menschen gemachten Gottesbildes.