Der große Strom oder: wenn man ein Stichling ist

Zur kirchlichen Situation heute - von Willi Mitzkewitz

Vor undenklichen Zeiten gab es einen großen, gewaltigen Strom, dessen Quelle tief in die Urzeit zurückreichte. Niemand wußte mehr genau, wo und wann der Strom entsprungen war. Damals herrschte reges Leben in seinen Fluten. Große und kleine Fische fanden in im Nahrung und Lebensmöglichkeiten.

Heute war der Strom zu einem kleinen Rinnsal in einer öden Wüste geworden. In ihm lebte recht und schlecht ein Stichling mit seiner Familie.

Gerade heute war ein besonders schöner Tag. Das Wasser war ein klein wenig gestiegen, die Kiemen wurden kräftiger durchflutet. Vater Stichling fühlte sich wohl wie lange nicht mehr. Er rief seine Kinder: “Heute will ich euch eine Geschichte erzählen,” eröffnete der den kleinen Stichlingen, “die mir von meinem Vater überliefert wurde.”

Stichling Pauline, die vorlauteste der Stichlinge, rief gleich: “O ja, am besten die Geschichte vom Oberkarpfen und seinem dicken Bauch.” Doch der Vater winkte ab: “Vor undenklichen Zeiten, als unsere Vorfahren noch im großen Strom lebten, tauchte eines Tages ein Fisch auf, der anders war als die anderen.”

“So einen kenne ich,” rief Stichling Pauline, “der Transzendenzhecht ist so einer.” Aber schon gab ihr der Bruder, der Stichling Franz, einen Stoß vor die Flosse, “halte deine Kiemen!”

Mißbilligend um sich schauend, setzte der Vater die Geschichte fort. “Also dieser Fisch versuchte aller Welt klarzumachen, daß man dem stürmischen Strom folgen sollte und keine Angst zu haben brauchte. Der Strom führe alle Fische in eine offene, unbegrenzte Seenwelt. Er sprach von einem ‚See der Zukunft‘, von einer ‚neuen Welt‘.

Aber, wie das bei Fischen so ist, er fand keinen rechten Glauben; man schwamm weiter hin und her, ohne auf die Richtung des Stromes zu achten. Dieser ganz besondere Fisch ließ sich aber nicht entmutigen und schwamm mit gutem Beispiel voran. Dabei mußte er seine Hoffnung mit dem Leben bezahlen. Er wurde von den Transzendenhechten getötet.”

Hier machte Vater Stichling eine Pause, wischte sich eine Tranträne aus seinem Fischauge und sagte: “Kinder, Kinder! Wäre man doch seiner utopischen Hoffnung gefolgt, dann wären wir noch alle im großen Strom und jeder von uns hätte Zukunft.”

“Wie? Was?” riefen die Stichlingskinder. “Gibt es noch den großen Strom?” “Ja, freilich,” entgegnete Vater Stichling. “Als der außerordentliche Fisch getötet war, nahmen sich die fetten Oberkarpfen des Falles an und machten den ‚Fisch‘ zu einem der ihrigen, obwohl er mehr – wie man sagen könnte – ein Stichling war. Man rühmte den Mut des besonderen Fisches, warnte aber gleichzeitig vor der gefährlichen Hoffnung auf den ‚See der Zukunft‘.”

“Damit in Zukunft keiner mehr durch den großen Strom in Gefahr geriete, beschlossen und verkündeten die fetten Oberkarpfen: ‚Wir leiten ein sanftfließendes Gewässerchen vom Großen Strom ab und alle Fische haben sich in dieses zu begeben. Mühselig begannen die Karpfen einen ‚neuen Fluß‘ zu graben.”

Hier räusperte sich Vater Stichling: “Den neuen Fluß kennt ihr, es ist unser Rinnsal.”

“Damit die Fluten hier nicht zu heftig würden,” fuhr Vater Stichling fort, “wurde an der Abzweigung vom großen Strom eine hohe Schwelle eingebaut, wir nennen sie – wie ihr wißt – Transzendenzschwelle; denn keiner, der hinüber wollte, kehrte zurück, um uns zu berichten, was Transzendenz bedeutet. Der Oberkarpfen mit seinen Transzendenzhechten bewacht die Schwelle.”

“Au, Kieme,” sagte Stichling Pauline. “Warum heiße ich eigentlich Stichling?” Und schwamm auf den ‚See der Zukunft” zu.

Lehre: Wer weiß, wo er hin will, kommt noch lange nicht dort an. Es sei denn: Er ist ein Stichling!