Der Mensch - ein kosmischer Zufall?

von Wolfgang Sabel

Ist das Universum eine geplante, zielgerichtete Schöpfung oder ist der gesamte Kosmos und mit ihm der Mensch - die Krone der Schöpfung - ein Produkt des Zufalls? Wird der Schöpfergott nach und nach aus dem Kosmos vertrieben und ist Gott lediglich der Lückenbüßer für noch ungeklärte Sachverhalte?

Zu Beginn des neuen Jahrtausends kam für die meisten wohl unbemerkt eine sensationelle Kurznachricht aus dem Vatikan: der Direktor des astronomischen Instituts im Vatikan, der amerikanische Jesuit Georg V. Coyne, hat die Theologie angemahnt, endlich den modernen kosmologischen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Das Gottesbild müsse sich wandeln, die Theologie müsse sich der evolutiven Dynamik des kosmischen Werdens öffnen. Das bisherige Gottesbild sei zu einseitig, zu statisch. Gott sei als Schöpfer eines Universums zu begreifen, in dem das Ziel und der Plan der Schöpfung nicht die einzigen und nicht einmal die wichtigsten Faktoren seien. Spontaneität und Unbestimmtheit hätten entscheidend zur Entwicklung eines Universums beigetragen, in dem das Leben erschienen sei. "Ein allmächtiger und allwissender Gott im Sinne eines Newtonschen Universums, in dem alles vorbestimmt und deterministisch ist", entspreche nicht dem heutigen Kenntnisstand.

Als Nikolaus Kopernikus, Johann Keppler und Galileo Galilei die Erde aus dem Zentrum des Universums stießen, war das nicht nur ein naturwissenschaftlicher Durchbruch. Es war der Umsturz eines bis dahin unerschütterlichen Weltbildes und zugleich der Zusammenprall zwischen Naturwissenschaft und religiösen Traditionen und Doktrinen. Ein Riss ging durch den Himmel des Glaubens.

In seiner Einführung in die Psychoanalyse (1916) schrieb Freud: "Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht im Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. (...) die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf Abstammung aus dem Tierreich und auf die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies."

Darwin stieß den Menschen vom seinem angestammten Sockel. Der Mensch war nicht mehr Ebenbild Gottes, Sonderbeauftragter der Schöpfers. Vom Abgesandten des Schöpfers wurden er zum Abkömmling der Säugetiere.

Als in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch C.D. Walcott und St. J. Gould in den kanadischen Rocky Mountains die Burgess Schiefer, vor 530 Millionen Jahren durch klimatische Veränderungen entstanden, entdeckt und erforscht wurden, war das Fenster in die Frühzeit der Evolution aufgestoßen. Damit hatte sich in aller Stille eine gewaltige Revolution auch in der Evolutionstheorie vollzogen.

War man bisher davon ausgegangen, dass sich die Geschichte des Lebens generell in Richtung von Komplexität und Vielfalt bewegte, die Evolution zielstrebig wie auf einer Leiter von niederen zu höheren Lebensformen verlaufe, das eigentliche Ziel allen Werdens der Mensch, die Krönung der Schöpfung sei, so stellten geologische und paläontologische Forschungsergebnisse fest, dass immer wieder der Zufall entschieden hat. Geologische und klimatische Katastrophen veränderten abrupt Lebensbedingungen und eine Vielzahl von bereits sehr komplex entwickelten Lebewesen starben aus. Wer überlebte, verdankte dies nicht einer besseren Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse. Es überlebte, wer zufällig mit den veränderten Bedingungen zurecht kam, ohne Berücksichtigung eines bereits weit entwickelten Lebens. Zu den Gewinnern dieses Lotteriespiels gehörte auch die Gattung, aus der Millionen Jahre später der Mensch hervorging.

Vor circa 9 Millionen Jahren trennten sich in Ostafrika, der Wiege der Menschheit, Mensch und Schimpanse von ihren gemeinsamen Vorfahren. Der genetische Unterschied zwischen beiden beträgt heute noch knapp 2%. Das Zusammentreffen einer Reihe von Zufällen führte in Richtung Mensch.

Gebirgsauffaltungen in Ostafrika, die große Landflächen von einander trennten, brachten es mit sich, dass sich die vom Atlantik kommenden Wolken am Westrand abregneten, während das Land im Osten versteppte. Das führte dazu, dass aus unserem gemeinsamen Vorfahren im Westen, dem Tropenwald, sich der Schimpanse und im Osten, der Steppe, sich der Mensch entwickelte.

Nicht das Gehirn, nicht der Geist stand am Anfang der Menschwerdung, sondern der Versuch eines schimpansenähnlichen Lebewesen bei der Versteppung seines Lebensraumes sich auf zwei Beinen zu bewegen, um bei der Nahrungssuche weite Strecken zurücklegen zu können.

Während dieser Entwicklung begann über verschiedene vormenschliche Erscheinungsformen, die, obwohl bereits hochentwickelt, meist abrupt endeten, das langsame Heraufdämmern menschlichen Bewusstseins. Aus dem Instinkt des Tieres, des Noch-Nicht-Menschen entwickelte sich Bewusstsein und Intellekt. Nicht Zielstrebigkeit, sondern zufällige Notlagen und Engpässe in der Nahrungsbeschaffung hatte die Menschwerdung gefördert.

Könnte man die Evolution wie ein Tonband zurückdrehen und nochmals laufen lassen, dann wäre es nach Meinung der Geologen und Paläontologen unwahrscheinlich, dass sich Bewusstsein und Intelligenz nochmals in der jetzigen Form entwickeln würde. Auf den Punkt gebracht: Beinahe hätte es uns nicht gegeben. Milliarden von Jahren experimentierte der Kosmos und entwickelte unendlich viele Variationen, verwarf sie und würfelte weiter, bis in einer "Feinabstimmung" Materie, Leben, Bewusstsein und Intelligenz entstand. Der Mensch verdankt sein Dasein dem Zufall.

Wenn die heutigen Evolutionserkenntnisse nur annähernd zutreffen, dann ergeben sich für die Interpretation des christlichen Weltbildes erhebliche Konsequenzen: Wir leben nicht mehr in der Vorsehung eines allmächtigen, allgütigen, allwissend planenden Gottes, sondern sind das Zufallsprodukt einer Evolution, die nicht Vollendung und Vollständigkeit zum Ziel hat, sondern durch nicht berechenbare Zufälligkeiten bestimmt wird.

Der Mensch kann nicht länger als Zentrum und Ziel des Kosmos gelten. Das alte anthropozentrische Denkgebäude und die theologische Weltformel TEILHARDS, dass der Kosmos mit seinen ungeheuren Dimensionen des Raumes und der Zeit einzig dazu da sei, um in der Vorsehung Gottes den Menschen hervorzubringen, und der Mensch wiederum wesentlich dazu gemacht sei, dass Gott selbst in Jesus Christus Menschen werden konnte, und nun endlich der Plafond erreicht sei, von dem aus die große Einigungsbewegung des Kosmos in "Omega" begonnen hätte: die Ausdehnung des Menschen über das All, das nur seinetwegen und nur dazu von der göttlichen Vorsehung geschaffen sei, wirkt heute fremd und entspricht nicht mehr unserem Denken und Wissen.

Wenn das menschliche Bewusstsein langsam aus den Vorformen des Menschen heraufdämmerte, sich langsam aus dem Instinkt des Tieres entwickelte, dann kann keine Rede davon sein, dass die Seele des Menschen unmittelbar und für jeden unverwechselbar von Gott im Akt der Zeugung in den menschlichen Leib eingegeben wird.

Da es den alten Adam nie gab, konnte es auch nie die Erbsünde geben. Dann konnte der neue Adam uns von dieser Urschuld auch nicht erlösen. Dann muss aber die gesamte Kreuzestheologie nicht nur in Frage gestellt werden, sondern dann ist diese und das damit verbundenen Gottesbild absurd, auch wenn Adams Sünde nur ein Bild für menschliche Schuld darstellen sollte.

Das Gottesbild des AT und NT ist eine Welt - Interpretation unter den Gegebenheiten der damals gültigen Erkenntnissen und Erfahrungen. Es deckt sich nicht mehr mit unserem Wissen. Menschen haben sich zu jeder Zeit ihr Gottesbild selbst geschaffen.

Schon Xenophanes hat in einem Bild treffend die Problematik beschrieben: "Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben."

Kommen wir auf den Anfang unserer Überlegungen zurück. Für eine geplante Schöpfung gibt es keine überzeugende Indizien. Coyne, der Astronom des Vatikans, meint zwar, dass das neue Bild von Gott als Schöpfer eines für zufällige Entwicklungen offenen Universums durchaus der biblischen Offenbarung gerecht wird. Aber gibt es eine übernatürliche Einbettung unserer Welt, ist der Glaube eine "grundlegende Option gegenüber der Wirklichkeit" (Ratzinger), gibt uns der Glaube die innere Gewissheit, dass die Wirklichkeit umfassender ist, als unser gesamtes Wissen über sie?" Wenn Theologen den Glaubensakt als abenteuerlichen Bruch und Sprung bezeichnen, werden sie nicht wollen, dass die Entscheidung ein reines Zufallsereignis bleibt. Die Entscheidung sollte doch wohl eine rational verantwortbare sein." (B. Kanitscheider) Ist Theologie und Naturwissenschaft überhaupt kompatibel? Prallen hier nicht zwei unvereinbare Weltensichten aufeinander?

"Alles scheint sich auf das Problem zu konzentrieren, ob die Natur in eine Übernatur eingebettet ist und ob für dieses Umgreifende irgendein rationales Indiz gefunden werden kann. Ein blindes Zulaufen auf eine hypothetische Realität, für die nur ein unbezähmbarer Wunsch, aber nicht die geringste Plausibilität spricht, ist das Charakteristikum der Irrationalität. Ein solches Verhalten ist weder intellektuell noch moralisch verwerflich, aber ganz sicher illusionär. Wenn sich der Vertreter einer übernatürlichen Realität nicht in die Rolle eines Spielers mit völlig unbekannten Gewinnchancen begeben will, muss er von den bekannten Zügen der natürlichen Realität ausgehen und fragen, ob sich von dort her Anzeichen für einen umgreifenden Grund aller Dinge finden lassen." (B. Kanitscheider)

Der moderne Mensch lebt, als gäbe es Gott nicht. Weder im Bereich von Recht und Politik, noch im Bereich der Kunst und Technik hat Gott heutzutage einen vorweisbaren Platz. Gott ist ausgeschlossen. Gott kommt nicht vor. Gott kommt nicht zur Sprache. Das Wort "Gott" ist leer. Aber je leerer, je ferner, je fremder das Wort "Gott" wird, um so lauter und unüberhörbar wird die Frage nach dem Sinn des Lebens, verbunden mit der Frage nach Gott. Denken mit Gott in einer Zeit der Gottvergessenheit? Die einen nennen es eine vage Spekulation, eine Illusion, die anderen nennen es Glauben. Wie immer wir uns entscheiden: Gott bleibt immer eine offene Frage.