Die andere Maria
von Wolfgang Sabel
Die in sich zusammengesunkene Frau mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß, die Worte auf den Lippen "lebendig wäre er mir lieber als tot", dargestellt im polnischen Kreuzweg von HAP Grieshaber und die junge Frau in Picassos Guernica mit dem toten Kind in den Armen, die ihren Schmerz verzweifelt gegen den Himmel schreit, kommen der wirklichen Maria näher als die verkitschten Madonnen in unseren Lourdes-Grotten.
Von der historischen Maria wissen wir wenig. Die spärlichen, mehr legendenhaften Schilderungen in den Evangelien, lassen vermuten, daß Maria für die junge Kirche keine besondere Bedeutung hatte. Nach ihrer fragmentarischen Biographie im NT, soweit sie sich historisch verwerten läßt, bezogen auf dem Hintergrund der damaligen Lebensgewohnheiten einer jungen Frau in Palästina, war Maria eine einfache Frau und stammte aus einer niedrigen sozialen Schicht. Sie heiratete ohne große Liebe schon früh den Mann, den ihr Vater für sie bestimmt hatte und führte eine normale Handwerkerehe. In Nazareth gebar sie ihren erstgeborenen Sohn, der schon bald für sie ein Problemkind wurde und bis zu seinem gewaltsamen Tod ein Problemkind blieb. Insgesamt brachte sie 6 Kinder zur Welt, wurde schon früh Witwe und Alleinerziehende.
Je mehr aus dem Mann aus Nazareth der Weltenherrscher, der König, Messias, Christus, Gottessohn, Menschensohn, Heiland wurde -Titel, die Jesus nicht für sich beanspruchte- um so mehr keimte in den Menschen die Sehnsucht nach mehr menschlicher Geborgenheit in der Beziehung zum Göttlichen. Damit rückte die Mutter Jesu ins christliche Bewußtsein. Maria, der Inbegriff der liebevollen und barmherzigen Mutter wurde zur Vermittlerin zwischen dem sündigen Menschen und ihrem Sohn, der inzwischen unerreichbar als Gottessohn neben Gottvater als strenger Richter saß.
In dem Maße wie Jesus zum Gott wurde, wurde Maria der historischen Realität entzogen. Sie wurde zur Gottesgebärerin. Als solche konnte sie ihren Sohn nicht von ihrem angetrauten Manne im ehelichen Beischlaf empfangen haben. Die natürliche Empfängnis war sündhaft und unrein und mit dem männlichen Samen hätte Josef die Erbsünde weitergereicht. Also empfing sie vom Heiligen Geist, wurde schwanger, mußte nach der Geburt jedoch Jungfrau bleiben. Wurde die Bezeichnung "Jungfrau" zur damaligen Zeit als Ehrentitel verstanden ohne anatomische Relevanz - die ägyptischen Pharaonen und die römischen Kaiser hatten jungfräuliche Mütter- so wurde Maria im Zuge der sexualfeindlichen Entwicklung der Gnosis zu einer "entsexualisierten Asketin" und der Begriff Jungfrau wurde zur anatomischen Realität.
Die Herkunft dieses Ehrentitels "Jungfrau" für eine Mutter, die einen außergewöhnlichen Menschen geboren hatte und der bis ins 3. Jahrtausend vor Christus zurückreicht, geriet immer mehr in Vergessenheit.
Die fast leere Biographie Mariens gab Gelegenheit für außergewöhnliche Spekulationen. Mit allen nur möglichen Auszeichnungen wurde sie bedacht. Maria wurde als "Gottesgebärerin" von ihrer Mutter unbefleckt empfangen. Mit theologischer Akrobatik versuchte man sie frei von der Erbsünde zu halten, die im ehelichen Verkehr weitergereicht wurde. Dies hatte schließlich seine Grenzen, als fromme Theologen diese Unbeflecktheit bis auf Davids Empfängnis ausdehnen wollten.
Die religiösen Bedürfnissen der Menschen haben sich nicht geändert und die Marienfrömmigkeit unserer Tage unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der Verehrung der Muttergottheiten der Antike. Tempel und Kultstätten, an denen weibliche Gottheiten verehrt wurden, wurden der Himmelskönigin geweiht. Die Volksfrömmigkeit und die Kunst, gefördert durch die Sublimierung und Abwertung des Sexuellen, machten aus Maria die keusche Himmelskönigin mit Krone und goldenem Mantel neben ihrem Sohn auf dem Throne als Fürsprecherin der Menschen sitzend. Schließlich wurde sie zur Miterlöserin und dogmatisch abgesichert mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. So entschwindet Maria aus der menschlichen in die göttliche Sphäre und entspricht dem urmenschlichen Bedürfnis nach dem Weiblichen in Gott. Ein irreales Marienbild, das dem Bedürfnis glühender Marienverehrer aus welchen Gründen auch immer entspricht, aber mit der tatsächlichen Mutter Jesu nichts mehr zu tun hat.
Maria war nicht die demütige Magd des Herren. Als solche wurde sie und wird immer noch zur Unterdrückung der Frauen im patriarchalischen System der Kirche mißbraucht. Sie war nicht der unerreichbare Übermensch. Sie war eine ganz normale Frau und eine ganz normale Mutter, die die Gefährdung und das Leid der Frauen und Mütter erlebt hat: Schwangerschaft, Entbindung, Armut, Ausgegrenztsein, Flüchtlingselend, der psychische und physische Verlust des eigenen Sohnes.
Hilflos stand sie den fragwürdigen "Eskapaden" ihres Sohnes gegenüber, sah ihn, ohne ihn aufhalten zu können, ins Verderben rennen. Nicht unter dem Kreuz hat sie gelitten (wahrscheinlich stand sie gar nicht unter dem Kreuz, sondern war im fernen Galiläa), sondern unter dem oft herzlosen Verhalten ihres Erstgeborenen, der sich mit allem was gut und heilig war anlegte. Göttliches oder Himmlisches war für sie in diesem Problemkind nicht erkennbar.
Wieviel durchwachte und durchweinte Nächte werden es gewesen sein, wieviel Kilometer wird sie in Angst und Sorge ihrem Sohn nachgelaufen sein, um ihn zu bitten, doch nach Hause zu kommen. Dann sein Vorwurf: "Was geht dich das an, halt dich da raus, du hast keine Ahnung."
Wie nah ist diese Maria den vielen Müttern von heute, deren Augen von den durchwachten Nächten in der Sorge um ihrer Söhne und Töchter verweint und gerötet sind.
Das ist die Maria unserer Tage. Zu dieser ursprünglichen Maria müssen wir zurückfinden. Wir brauchen heute nicht die Lourdes-Madonna, die Fatima-Madonna oder die fragwürdigen Visions-Madonnen frommer Frauen und Männer.
Was Maria damals litt, war nicht mehr und nicht weniger als der Schmerz und das Leid der Mutter, die im Kosovo ihren mißhandelten toten Sohn im Straßengraben findet, der Mutter, die im Sudan ihren verhungerten Säugling an ihre ausgetrocknete Brust hält, der Mutter, die tatenlos mit ansehen muß, wie ihr Kind an einer tödlichen Krankheit stirbt.
Unsere Mariologie ist christliche Mythologie. Dies sollte keineswegs abwertend verstanden werden. Jede Religion lebt von der Mythologie, auch das Christentum. Nur sollte man sich dessen immer bewußt sein. Schwierig wird es, wenn Mythologie als Realität dogmatisch festgeschrieben wird, und die Geschichte die Kirche einholt.