Die Halbfas-Bibel

von Wolfgang Sabel

Wer liest heute noch in der Bibel? Sicherlich die Frommen und diese kennen sie auswendig, von vorne bis hinten. Sie zitieren mit Kapitel- und Versangabe. Und die weniger Frommen und die Abständigen, für die die Bibel eigentlich gedacht ist? Falls diese das Buch überhaupt aufschlagen, legen sie es bald resigniert zur Seite. Abgenutzte Sprache, unattraktive Aufmachung, über ganze Passagen mit dem Text allein gelassen und wenn eine Erklärung, dann meist komplizierter als der Bibeltext oder nichts sagend und ärgerlich.

Ganz anders bei der neuen Halbfas-Bibel. Wenn auch die äußere Verpackung mit Michelangelos Jesajas eher einen bieder - konservativen Eindruck macht, so ist der Inhalt in jeder Hinsicht hoch explosiv. Für die ganz Frommen, die ihr christliches Schäfchen schon im Trocknen haben, äußert gefährlich, sie könnten wieder im Regen stehen.

Allein schon das Durchblättern ist ein ästhetischer Genuß. Es verführt unbemerkt zum Schmökern. Mit Speck fängt man Mäuse. Ehe man sich umsieht, ist man mitten im Text und kommt nicht mehr davon los. Bibeltexte, mit dem untrüglichen Gefühl für das Wesentliche ausgesucht, sachlich mit den neuesten Erkenntnissen der modernen Bibelwissenschaft kommentiert, verknüpft Halbfas mit verwandten Texten der älteren und neueren Literatur (Kaschnitz, Thomas Mann, Paul Celan, Günther Grass, Böll, Büchner, Stefan Heym, Fridolin Stier, Camus, Sartre, Leibowitz, Heinrich Heine, Martin Luther King, Kierkegaard, Platon und viele andere). Diese Texte weisen darauf hin, daß die Bibel geschrieben ist unter dem Joch der Not, der Angst, des Elends, der Verzweiflung.

In weiten Passagen ist sie ein Schrei zum Himmel: „Wo bist du Gott?“ Faszinierend die Kommentierung mit Kunstwerken aus der Antike, des Mittelalters, der Modernen und Postmodernen, einprägend, bestimmend aber nicht aufdringlich. Immer im Hintergrund die Historie, die politische Situation. Und immer wieder das plötzliche Überfallenwerden durch ein kurzes nicht faßbares Aufblitzen der Transzendenz: Gotteswort oder Menschenwort? Die Frage kommt immer wieder beim Lesen.

Diese von Hubertus Halbfas erschlossene und kommentierte Bibel zeigt, daß das Buch der Bücher ein aktuelles, ein hoch modernes Buch ist, kein Altes und Neues Testament, sondern jüdische und christliche Bibel. Und sie wird weiter geschrieben, anders. Dichter, Künstler, Philosophen und Naturwissenschaftler sind die Propheten unserer Tage. Nicht selten verachtet und verspottet wie damals. Auf diese Bibel haben wir gewartet.

Die Bibel—erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas, Patmos- Verlag, ISBN 3-491-70334-4, Einführungspreis 98.00 DM (später 138,00 DM)