Die Herde und ihr Hirte

oder: Der verloren-geglaubte Hirte

von Norbert Piechotta

Einst murrten die Schafe wider ihren Hirten. Sie fanden kein saftiges Gras, die Wässer schmeckten modderig, immer wieder wurden sie von den Rudeln der Habgier, der geistigen oder geistlichen Verblendung angefallen und viele von ihnen fielen diesen Angriffen zum Opfer.

Ihr Hirte kümmerte sich wenig um sie. Oft vergingen Jahre, ehe er mal wieder zu ihnen fand. Und dann blieb er nur kurz. Um ihnen seine Huld und Liebe zu beweisen, streichelte er das eine oder andere besonders unterwürfige Schaf etwas länger. Die, die etwas ferner standen schien er nicht mehr zu hören oder zu sehen. Die, die weggelaufen waren, fanden keinerlei Sorge. Der gute Hirte, der die verlorenen Schafe sucht und sie zur Herde zurückbringen will - das konnte er nicht sein.

Denn er lebte fernab von ihnen in einem Palast mit einem großen Park, mit anderen Schafen, die ihn kutschierten, seine Kleider richteten und ihn, den Hirten, untertänig wie einen Fürsten behandelten.

Und der Hirt fand es ganz in Ordnung so, denn es sollte so bleiben wie es schon immer war.

So wurden die Schafe zornig und sprachen: ”Was sollen wir mit solchen Hirten, die wie Fürsten leben, die nicht mit uns sprechen, die nicht zuhören, wenn wir beklagen, kein Gras der Menschlichkeit und Liebe zu bekommen. Und wenn wir nur die abgestandenen Wässer von Hierarchie und Scheinheiligkeit als Trunk erhalten; und die Zäune der Dogmen und der Tradition lassen uns nicht an das quellfrische Wasser und das saftige Gras, das wie Mana schmeckt.

Gab es nicht einen Mann vor 2000 Jahren, der sagte, es gebe nur EINEN? Sagte er nicht: es gibt keinen Lehrer, es gibt keinen Meister, es gibt nur Brüder und Schwestern. Sagte er nicht: was ihr dem oder der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan? Sprach er nicht von dem Geist, der weht wann und wo er will?”

So sprachen die Schafe und ein jedes hörte dem anderen zu, und da sie so sprachen, erkannten sie, was sie zu tun hatten.

Und als nach langer Zeit der Hirte aus seinem Palast mal wieder nach den Schafen sehen wollte, so waren nur noch die alten und ganz unterwürfigen verblieben, die geglaubt hatten, daß der Hirte sie jetzt endlich in das Land, wo Honig und Milch fließt, bringen werde.

Als nun der Hirte sah, daß die Zäune die Schafe nicht gehalten hatten, beschimpfte er die brav dagebliebenen, ihre Moral sei auf einen noch nie dagewesenen Tiefpunkt gekommen. Und früher sei alles besser gewesen.

Die Herde und ihr Hirte

Nur noch zwei oder drei -wahrhaftig- Schafe blökten ihre Zustimmung und folgten dem Hirten. Wohin sie gingen, weiß niemand mehr.

Der verloren-geglaubte Hirte

Die anderen Schafe aber fanden das, was sie in ihrem Pferch nie gefunden hätten. Und sie erkannten, daß dieser Mann vor 2000 Jahren der letzte Hirte gewesen war, denn nach ihm konnte es keine Hirten und keine Schafe mehr geben.

Bald fand aber auch er zu ihnen zurück und bei ihnen war große Freude, daß er erkannt hatte, daß es keine Hirten und keine Schafe gab – nur Geschwister. Nicht mehr und nicht weniger.