Die Kirche – ein Auslaufmodell?

von Dr. Wolfgang Sabel

Daß sich unser Weltbild und damit auch die Religionen, insbesondere das Christentum, im Umbruch befinden, bestreitet niemand mehr. Daß die jetzige Struktur der Kirchen, insbesondere der katholischen, überholt ist und in eine Sackgasse führt, halten viele für möglich. Die Kirche ein Auslaufmodell? In der jetzigen Form nicht ausgeschlossen.

Die Fragen sind berechtigt: Stimmt unser christliches Deutungsmodell noch, nachdem sich unser Weltbild in den letzten 500 Jahren rasant weiterentwickelt hat und immer neue, unbekannte Horizonte aufgetan werden? Stimmt unser Gottesbild noch oder gehört es einem vergangenen, archaischen Kulturraum an? Hat eine Kirche, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ihren Gläubigen noch die Untertanen eines längst überholten absolutistischen Systems sieht und immer wieder die pyramidale Hierarchie des absoluten Gehorsams demonstriert, heute noch eine Zukunft? Oder bricht aus dem verkrusteten, ausgelaugten, mumifizierten System die zarte Pflanze einer erneuerten Kirche und eines erneuerten Christentums hervor? Ist tatsächlich eine Mutation, ein Paradigmenwechsel im religiösen Bereich möglich? Oder kommt es letztendlich zum dramatischen Absturz unseres heutigen Deutungsmodells.

Auf diese Fragen suchte Prof. Hubertus Halbfas in seinem Vortrag: “Wohin mutiert das Christentum? Überlegungen zur Überlieferungskrise und zur Veränderung des religiösen Bewußtseins” in der Theodor-Heuss-Akademie am 7. Mai in Gummersbach eine Antwort zu finden. Eingeladen hatte der Ökumenische Arbeitskreis Kritischer Christen in Oberberg.

“Angesichts des gewandelten Welthorizonts, der Kirchen und Theologie herausgefordert”, so Halbfas, „verlieren viele der überkommenen religiösen Deutungsmodelle ihre Kraft. Was ehedem hilfreich war, kann heute verwirren oder jedenfalls so viele neue Fragen und Problemstellungen anhäufen, daß eine Orientierung und zeitgemäße Verständigung in diesen Deutungsmustern nicht mehr möglich ist. Die Wahrnehmungsformen, Beurteilungskategorien, Entscheidungsmechanismen und Handlungsstrukturen der kirchlichen Welt kommen aus einem vergangenen Paradigma und verlangen ihre Übersetzung in veränderte Rahmenbedingungen.

Bei der Umsetzung “geht es aber nicht darum, der alten Wahrheit einen neuen sprachlichen Ausdruck zu geben, als könne ein unveränderlicher Kern lediglich in ein neues Kleid gesteckt werden. Neue Sprache bedeutet auch neue Inhaltlichkeit, neues Verstehen bedingt neuen Ausdruck.”

Die Veränderungen sind eine Grundbedingung für die weitere Existenz des Christentums. Die Umsetzung “beeinträchtigt christliche Identität nicht, sondern erhält sie. Der sich in Schüben und Sprüngen, Teilbereichen und Fächern vollziehende Prozeß hin zu dem neuen Paradigma von Theologie erfolgt nicht, um den unüberholbaren Anfang preiszugeben, sondern um ihm unter den gewandelten Bedingungen des Verstehens Zukunft zu geben.”

Überzeugend machte Halbfas an Hand der unterschiedlichen Deutungen unseres Weltbildes in Laufe der vergangenen Jahrtausenden klar, wie einschneidend die Änderung eines Verstehensmodells, d.h. die Änderung eines Paradigmas sich auf den Menschen auswirken kann.

Das ptolemäische Weltbild der Antike und des christlichen Mittelalters hatte die Erde zum Mittelpunkt der Welt. Dieses Weltbild erschütterte Kopernikus mit seiner heliozentrischen Hypothese. Er entzog damit dem damaligen kirchlichen Lehrgebäude seine Begründung und stürzte die Kirche in eine tiefe Krise, die sie bisher noch nicht überwunden hat.

Theoretisch hat die Kirche zwar die Wandlung vollzogen. Immerhin wurde Galilei rehabilitiert. In Wirklichkeit lebt sie jedoch in der Zeit vor Kopernikus und Galilei und will nicht wahrhaben, daß das Welt- und damit das Menschenbild sich gravierend verändert haben. Sie sieht im Menschen des 20. Jahrhunderts noch immer den mittelalterlich geformten Untertan und wundert sich, daß ihre Sprache nicht mehr verstanden wird.

Zwei verschiedene Verstehensmodelle bedeuten zwei verschiedenen Sprachen. Daß hier einer der wesentlichen Gründe für den andauernden Konflikt liegt, liegt auf der Hand.

An Konfliktsituationen, wie sie sich im naturwissenschaftlichen Raum abspielen, zeigte Halbfas die Ablösung alter Deutungsmodelle: Die junge Generation treibt den Paradigmenwechsel vehement voran, während die Älteren, verwachsen mit dem alten Paradigma, sich gegen das Neue wehren. Um zu dem neuen Erklärungsmodell überzugehen, bedarf es dann einer neuen Generation.

Prof. Halbfas legte dies zwar am Beispiel der Naturwissenschaften dar, aber der Vergleich mit der Theologie lag nahe. Umgesetzt auf den andauernden kirchlichen Disput brachte der folgende Satz des Physikers Max Planck, den Halbfas zitierte, unsere heutige kirchliche Situation auf den Punkt: “Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt wären und sich als bekehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.”

Bei der anstehenden ‚Änderung unseres Deutungsmodells, dem Paradigmenwechsel, spielen ”individuelle psychische Strukturen und Denkweisen” eine nicht unerhebliche Rolle. Aber auch eine ”systemspezifische Bereitschaft zur Beharrung und Mobilität, zu Skepsis, ängstlicher Abwehr und apologetischem Sicherungswillen” hat eine große Bedeutung. ”Je mehr ein neu heraufziehendes Paradigma Anspruch an ein Umdenken und die Bereitschaft zu neuen, noch unabsehbaren Wegen deutlich macht, desto heftiger werden sich – zumal im weltanschaulich-religiösen Bereich – Gegenwehr und Ablehnung einstellen unter dem Anspruch, der überlieferten Wahrheiten in größerer Treue verpflichtet zu bleiben. Demgegenüber erscheinen die Verfechter des neuen Paradigmas als die leichtfertigen Zerstörer der tragenden Sicherheiten.”

Deutlicher läßt sich unsere heutige kirchliche Situation nicht beschreiben. Aber was geschieht, wenn zwischen zwei grundlegenden Denkmodellen sich ein dramatischer Wechsel vollzieht, wenn alte, vertraute fundamentale Überlebensstrukturen durch eine neue Interpretation abgelöst werden? Kommt es zu einem Zerbrechen der Glaubenskontinuität? - Oder wird das Alte in das Neue eingehen?

Für Halbfas geht es nicht um die Alternative zwischen ”totaler Kontinuität und totaler Diskontinuität”. Im Paradigmenwechsel gibt es gleichzeitig Kontinuität und Diskontinuität, Rationalität und Irrationalität, Begriffsstabilität und Begriffsveränderung, evolutionäre und revolutionäre Elemente. “Es ist also zu beachten, zumal im Rahmen theologischer Paradigmenwechsel, daß es nicht darum geht, die bisherige Tradition – zumal die Quellen dieser Tradition- auszutauschen, sondern sie unter veränderten Verstehensbedingungen neu zu interpretieren. Damit wird auch die bestimmende Intention deutlich: die Tradition nicht sterben zu lassen, sie nicht zu mumifizieren, sondern sie neu zu sehen, um sie auf diese Weise für eine gewandelte Zeit weiterführen zu können.”

Wohin mutiert das Christentum, wie wird das Christentum der Zukunft aussehen? Wenn das Christentum überleben will, so Halbfas, dann wird es ein neues religiöses Bewußtsein geben müssen, wobei das Mystische und Spirituelle eine nicht unerhebliche Rolle spielen wird. Die Kirche der Zukunft wird wesentlich mehr demokratische Züge tragen, das feministische Element wird eine entscheidende Rolle spielen und der ökumenische Gedanke wird im Vordergrund stehen. Unter diesen Voraussetzungen wird die Kirche kein Auslaufmodell sein, sondern lebendiges, ursprüngliches Christentum.