Die Taube und das Chamäleon
oder: Wenn man Farbe bekennt
von Willi Mitzkewitz
Auf halbem Wege zwischen Köln und Rom begegneten sich eine Taube und ein Chamäleon. Das Chamäleon, sich geschickt in Farbe und Gestalt der Umgebung anpassend, macht auf einem mächtigen Baum halt. Die Taube kam mit schwerem Flügelschlag offen durchs Gelände geflogen auf denselben Baum. Aufseufzend ließ sie sich auf einen Ast des mächtigen Baumes nieder.
Neugierig betrachtete das Chamäleon mit einem seiner Drehaugen die Taube. “Du siehst aber sehr mitgenommen aus,” sprach es. “Was ist los mit dir?”
“Ich komme geradewegs aus Köln, aus der Straße, die dem heiligen Maternus geweiht ist. Vor Jahren hatte mich mein Herr aus Rom dorthin fliegen heißen; denn er glaubte, daß hier ein Frühling der Erneuerung und des Aufbruchs beginne. Was aber aus dem Frühling geworden ist, kannst du an mir sehen. Nur mit knapper Not entging ich einer Federrupfung. – Woher aber kommst du?” fragte die Taube.
“Ich”, sprach das Chamäleon, “komme direkt aus Rom. Ein Meister meiner Kunst wurde bisher in Rom sehr gebraucht. Seit Jahrzehnten gelang es mir, mich allen Situationen geschickt anzupassen. Ich bin ja ein Meister der Farbtechnik. Ich habe gehört, daß in Köln, dort wo du herkommst, für Leute wie mich das beste Betätigungsfeld ist. Ich werde mich dort bewerben.”
“Ich kann dir versichern”, sagte die Taube, “du wirst sicher eine gehobene Stellung finden. Einen wie dich werden sie mit Freuden aufnehmen. Vielleicht wirst du schon bald Prälatus domesticus. Doch betrachte mich! Ich, der ich in meiner Einfalt und Arglosigkeit glaubte, für Offenheit, Brüderlichkeit, für Schwesterlichkeit, für die Radikalität der Botschaft Jesu und für das Wagnis der Hoffnung eintreten zu müssen, auf mich wurde eine regelrechte Treibjagd veranstaltet. Ich paßte nicht in ihre Gottesverwaltung. Ihr geistliches Korsett, das sie mir verpassen wollten, war mir ein Greuel. Damit sie ihre Ruhe hätten, wollten sie mir zu guter Letzt die Flügel stutzen in der Hoffnung, daß der Geist nicht mehr wehen könne, wo er wolle. Mit knapper Not bin ich ihrem Anschlag entkommen.”
“Du tust mir leid”, sprach das Chamäleon, “aber wie kann man auch nur mit dem Kopf durch die Wand wollen? Ändere deine Farbe, tarne dich, passe dich an, mache es wie ich! Dann hast du keine Schwierigkeiten. Man muß mit den Wölfen heulen, um etwas zu erreichen!”
Nach diesen Worten setzte das Chamäleon seine Reise fort. Ob es ankam, weiß man nicht; es ist ja ein Meister der Tarnung.
Lehre: Wer es im Leben zu etwas bringen will, sollte ein Chamäleon werden. – Wer sich auf die Person Jesu einläßt, sollte sich nicht rupfen lassen.