Die „dunkle“ Seite Gottes
von Willi Mitzkewitz
Im Geheimnis des menschlichen Lebens gibt es immer zwei Erfahrungen von Gott: Es ist einmal die dunkle, feindliche Erfahrung, die Bedrohung und Begrenztheit des menschlichen Lebens, zum anderen das helle und freundliche Erleben, die Beglücktheit im Erfahren der Zuwendung Gottes. Beide Erfahrungen sind Teil der biblischen Tradition, die die Menschen mit ihrem Gott machten. Ich erinnere nur an das Buch Hiob. Es gehört zu den traurigen Kapiteln unserer christlichen Tradition, dass die “dunkle” Seite Gottes, die es ja auch in der Erfahrung unserer Menschen gibt, häufig verdrängt wurde, und der Mensch vorschnell auf einen jenseitigen “Vertröstungshimmel” verwiesen wurde. Das Leben ist aber nicht so einfach. Wir leben mit Krieg, Völkermord, Gewalttaten im öffentlichen und privaten Leben. Und da ist kein Gott, der direkt eingreift und in seiner Allmacht und Gerechtigkeit alles wieder gut macht. Wo war Gott, als in Auschwitz die Gaskammern arbeiteten und die Krematorien brannten? Was tat Er, um den gewaltsamen Tod von Millionen von Menschen zu stoppen? Fragen über Fragen! Wir sollten uns aber davor hüten, das “dunkle” Gottesbild in einer Weise der “Zeigefinger-Pädagogik” von Lohn und Strafe zu erklären. Jedes Moralisieren zeitigt gefährliche Folgen, ich erinnere an die Verfolgungsgeschichte des Judentums durch die Christenheit seit dem frühen Mittelalter.
Wir haben sehr viel über Gott gelernt. Aber mit einem “dunklen” Gott zu rechnen, der nicht in unsere Denkschemata passt, haben wir nicht gelernt. Warum eigentlich nicht? Dabei gibt unsere biblische Tradition genügend Beispiele, die uns etwas von diesem Geheimnis, das wir Gott nennen, erahnen lässt. Ich erinnere an die eine Seite des Geheimnisses von der Menschwerdung Gottes: Er lässt seinen Sohn bei den Armen und Unterdrückten geboren werden und nicht bei den Mächtigen und Reichen. Dieser Jesus geht seinen Weg konsequent bis in den Tod der Verbrecher am Kreuz. Am Kreuz dann erfährt auch er die “dunkle” Seite seines Gottes: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”
Der Theologe Johann Baptist Metz sieht in der Zulassung von Angst, Trauer und Leid im Gottesbild einen Ausdruck von echter Religiosität. Er spricht von einer “Mystik des Leidens an Gott”. “Gott, der noch anders und anderes ist als das Echo unserer Wünsche, und wären sie noch so feurig; der noch mehr und anders ist als die Antwort auf unsere Fragen, und wären sie die härtesten und leidenschaftlichsten”.
Darum ist es so wichtig, dass schon in der religiösen Erziehung der Kinder die “dunkle” Seite Gottes nicht verschwiegen wird. Wir müssen sie zu einer neuen Kultur der Klage führen, die weiß, dass nicht alles, um was wir beten und bitten, in Erfüllung geht. Echtes Klagen ist ja eine Sprache der radikalen Gottesbejahung, sie zielt in das “Herz” Gottes. Vielleicht gewährt uns Gott bei dieser radikalen Klage Einblick in eine neue Gotteserfahrung.
Vielleicht gehen uns neue Erfahrungen auf, die in folgender Richtung liegen könnten:
- In meinem Verhältnis zu Gott ist nichts von Nutzen und Vorteil, von Verdienst und Lohn; ich bin in das unbegreifliche Geheimnis Gottes geworfen, “der zwar redet, aber nicht antwortet”. Ich begegne Gottes unverfügbarer Überraschung.
- In den Schmerzen meines “Kampfes” mit Gott – ich erinnere an den Gotteskampf Jakobs am Jabbok – könnte Gott so mit einbezogen sein, dass er durch mein Leiden und meine Verwundung selber gezeichnet wird, d.h. Gott ist in der “dunklen” Seite meines Lebens mit eingewoben.
- Die Erfahrung des “mitleidenden” Gottes, der in die “dunkle Nacht” menschlichen Leids einsteigt, korrespondiert mit dem Wesen des Menschen, der auf das “Du” des anderen Menschen – des Mit – Menschen – verwiesen ist.
“Gott
sagt der Mensch
als wäre er ein Richter
säße im siebten Himmel
seine Aufgabe
Menschen zu verurteilen
oder zu belohnen
Dieser kleinliche Gott
vom Menschen erschaffen
Als wäre nicht der Mensch
ein Pünktchen auf Erden
die Erde ein Pünktchen
in endlosen Raum
unter unendlichen Welten
die der Mensch
sich nicht einmal
vorstellen kann”
Rose Ausländer