Ein Brief von Haggai Matar

Heute am 23. Oktober 2002 muß ich ins Militärgefängnis, weil ich auf meiner politischen Ansicht beharre, die mich davor schützt, von der israelischen Armee eingezogen zu werden.

Trotz meines jugendlichen Alters von nur 18 Jahren und obwohl ich keine eigenen Erinnerungen an die frühen Jahre Israels habe, kann ich mit vollem Bewußtsein erklären, daß das Land ein nie da gewesenes moralisches Tief erreicht hat. Die extreme Verschlimmerung begann mit Baraks „großzügigen Angeboten“, die nur ein weiterer Versuch waren, dem palästinensischen Volk eine einseitige Vereinbarung aufzuzwingen. Heute hat die Militarisierung und der Rassismus in der jüdischen Bevölkerung bereits faschistische Ausmaße erreicht.

Daß kritisches Denken unterdrückt wird, die totale Hinnahme der Besatzungsverbrechen, die Verherrlichung der Armee und die allmähliche Gewöhnung an die Prinzipien der „ethnischen Säuberung“ – all dies stellt nur annähernd den Zusammenbruch unserer Gesellschaft dar. Dieser Liste muß außerdem die systematische Demütigung der arabischen Bürger Israels hinzugezählt werden sowie die gehässige Gewalt gegenüber Friedensdemonstranten und die kaltherzige Haltung gegenüber Andersartigen und den Schwachen.

Wegen alledem weigere ich mich, mitzumachen. Die Stimme meines Gewissens und die Lektionen der Menschheit aus unzähligen solchen Vorfällen in der Vergangenheit lassen mir keine andere Wahl, als mich meiner Einberufung in die Israelische Armee zu verweigern – die fälschlicherweise noch als „Verteidigungsstreitkräfte“ bezeichnet wird.

Meine Dienstverweigerung ist unumgänglich. Die Unterdrückung, die die Völker dieser Region in der Zeit der Imperialherrschaft erlebten, das Grauen der Sklaven und der Indianer Nordamerikas, der Algerische Unabhängigkeitskrieg sowie die Apartheid Südafrikas – das sind Ereignisse, die meine Verweigerung unumgänglich machen. Der Einsatz meines Großvaters im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen den Nazi-Faschismus und sein Glaube an die Humanität – das sind weitere Gründe meiner Verweigerung. Im eigenen Land erfuhr ich, was Unterdrückung und Recht bedeuten. Angesichts solcher Übel hier und heute gibt es keinen anderen Weg.

An diesem einschneidenden Tag meines Lebens und unterstützt durch meine Familie und Freunde, möchte ich meine Mitkämpfer erwähnen, die unbesungenen Helden unseres Kampfes: den Palästinenser, der ohne Gewaltanwendung gegen die israelische Zivilbevölkerung die Besatzung erträgt, obwohl er keinerlei Hoffnung auf ein anständiges Leben hat, den palästinensischen Staatsbürger Israels, der sich trotz alltäglicher Demütigungen weiterhin für Koexistenz einsetzt, die Jugendliche, die trotz ihrer Erziehung den Besatzungsdienst ablehnt, den internationalen Friedensaktivisten, der die Palästinenser mit seinem Leib und Leben in den besetzten Territorien verteidigt sowie meine Freundin, ein junges Mädchen, das in einer rechtsgerichteten Familie aufwuchs, sich in einen Araber verliebte und folglich von ihrer Familie verstoßen wurde.

In meiner Haft werde ich – während ich gezwungenermaßen Staat und Armee salutiere – in meinem Herz und Geist all meinen mutigen Freunden Salut geben. Wegen meiner Herkunft reiche ich nicht an sie heran. Ihr Opfer ist so viel größer als meines - für Frieden und gegen die Besatzung.

4. Nov. 2002 - Vorstehend der Brief eines jungen Israeli, der im Frühjahr auf einer Rundreise u.a. auch in Madison, Wisconsin (USA) sprach. Er beeindruckte uns alle zutiefst durch seinen Mut und seine Vision. Viele andere sind inzwischen seinem Beispiel gefolgt und verweigern die Brutalitäten der israelischen Besatzung. - Virginia Ravenscroft-Scott, (vcrs@post.harvard.edu)

Dazu ein nachdenkenswerter Text von Erich Fried.

Ein Jude an die zionistischen Kämpfer (1988)

Was wollt ihr eigentlich?
Wollt ihr wirklich die übertreffen
die euch niedergetreten haben
vor einem Menschenalter
in euer eigenes Blut
und in euren Kot?

Wollt ihr die alten Foltern
jetzt an andere weitergeben
mit allen blutigen dreckigen Einzelheiten
mit allem brutalen Genuß der Folterknechte
wie eure Väter sie erlitten haben?

Wollt jetzt wirklich ihr die neue Gestapo sein
die neue Wehrmacht
die neue SA und SS
und aus den Palästinensern
die neuen Juden machen?

Aber dann will auch ich
weil ich damals vor fünfzig Jahren
selbst als ein Judenkind gepeinigt wurde
von euren Peinigern
ein neuer Jude sein mit diesen neuen Juden
zu denen ihr die Palästinenser macht

Und ich will sie zurückführen helfen

als freie Menschen
in ihr eigenes Land Palästina
aus dem ihr sie vertrieben habt
oder in dem ihr sie quält
ihr Hakenkreuzlehrlinge
ihr Narren und Wechselbälge der Weltgeschichte
denen der Davidstern auf euren Fahnen
sich immer schneller verwandelt
in das verfluchte Zeichen mit den vier Füßen
das ihr nur nicht sehen wollt
aber dessen Weg ihr heute geht.

Erich Fried (1921-1988), selbst Jude und gelitten unter den Nazis