Jesus und Weihnachten

von Norbert Piechotta

Als Jesus nach 2000 Jahren, von IHM geschickt, um nach dem rechten zu sehen, um sich zu überzeugen, was durch seine Worte und durch seinen Tod bei den Menschen des kleinen dritten Planeten in dem unbedeutenden Sonnensystem am Rande einer unbedeutenden Galaxis an Veränderung bewirkt worden war, am 24. Dezember 2006 gegen 1.17 h in einer Boeing 727 materialisierte, so tat er das mit der ihn auszeichnenden Ergebenheit.

In der Bordtoilette blickte er in das Antlitz eines bärtigen, langhaarigen Mannes, der nach kurzer Zeit den Schließmechanismus der Toilettentür überwand und durch seine, der damaligen Zeit vor 2000 Jahren entsprechenden, Kleidung und Schuhwerk sich unübersehbar als blinder Passagier verriet. In Frankfurt angekommen, verhaftet als staatenloser Asylant und des Terrorismus dringlich verdächtigt, verursachte er bei dem durch einen Staatsanwalt herbeigerufenen Alt-Sinologen morgens früh einen tödlichen Herzinfarkt, als dieser zunächst ungläubig, dann aber in einer zunehmend wahnwitzigen Erkenntnis unverkraftbar realisierte, dass er seit fast 2000 Jahren nicht gesprochene aramäische Laute vernommen haben musste.

Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des bedauernswerten Sinologen feststellen, erhebliche Schlafdefizite dafür verantwortlich machend, um nicht an seiner naturwissenschaftlichen Bildung zweifeln zu müssen, dass dieser eben noch angeblickte bärtige junge Mann unsichtbar, verschwunden und nie wieder von ihm und dem konsternierten Wachpersonal gesehen ward.

Mit Neugier, in höchster Ver-Wunder-ung über die neue Welt um ihn herum, wurde Jesus beinahe von Taxi-Willi überrollt, als er, die Straße überquerend, von Lärm, Neonlichtern und einem tief fliegenden Hubschrauber gefesselt, nach oben blickend, mitten auf der Fahrbahn stehen blieb. Nur durch die Vollbremsung und das Ausweichen mit ABS blieb es bei einer kleinen Verletzung durch die Stoßstange in Kniehöhe. Jesus nahm das Angebot von Taxi-Willi dankend an, als dieser ihn, polizeiliche Unannehmlichkeiten vermeidend, zum Frankfurter Hauptbahnhof fahren wollte, weil Jesus sich zu der größten Synagoge des Landes begeben wollte. Taxi-Willi erklärte noch, dass der fremdartig Aussehende den Zug nach Köln nehmen müsse, da der Kölner Dom offensichtlich die größte Kirche in Deutschland sei.

Am Abend fragte sich Taxi-Willi, wieso dieser komisch gekleidete Asylant oder Ausländer ihm in der kurzen Begegnung so vertraut geworden sein konnte. Sie hatten sich fast nur mit Händen und Füßen verständigt, sie waren nicht einmal eine halbe Stunde gemeinsam unterwegs gewesen – dieser Fremde war ihm näher gewesen als seine Freunde, mit denen er seit über 25 Jahren Kegeln ging.

Nach zwei Stunden Fahrt hatte Jesus Köln erreicht und mittlerweile viel erfahren, denn er blickte in die Herzen der Menschen, las ihren Geist, spürte den Hauch ihrer Seelen auf und hatte so viel über seine jetzigen Nächsten, aber auch viel über die vergangenen Entwicklungen in Erfahrung gebracht – Wundersames und Entsetzliches.

In Gottes Namen hatten Menschen voller Liebe geholfen, gepflegt und ihre Nächsten versorgt; in Gottes Namen waren Intrige, Hass und Intoleranz Begleiter von Tod, Krieg und Gewalt gewesen.

Und so wunderte Jesus sich gar nicht, als er unterhalb der großen Synagoge in dieser Stadt, genannt Kölner Dom, spät abends einen frierenden und hungernden älteren Mann wahrnahm, der, Schutz vor der Kälte suchend, von einer jungen Frau in Uniform gebeten wurde, an seinem, Jesu, Geburtstag ein warmes Quartier aufzusuchen und sich eine warme Mahlzeit einzuverleiben.

Und mit Trauer sah er, dass ein kleiner älterer Mann mit lauter Stimme und einer seltsamen roten Kopfbedeckung, jovial grüßend, begleitet von sich unterwürfig gebärdender Gestalten, in die große Synagoge trat und dort an einem geschmückten Tisch in der Kleidung, wie er sie ähnlich selber trug, von Gott, Maria, seiner Mutter, und ihm selber sprach.

Aber es waren nur Geräusche, Worte, leer wie taube Nüsse, und keinen der wohlgenährten, pelz-gekleideten Zuhörer sprachen sie an, denn keiner verließ die Synagoge, um bei den Armen, den Kranken und den Leidenden zu sein.

Und als der 24. Dezember 2006 zu Ende war, weinte Jesus bitterlich. Immer noch nicht war er wirk-lich geboren, denn an seinem Geburtstag 2006 waren 21.777 Kinder weltweit hungers gestorben - still, leise, unauffällig, ohne Aufhebens von sich zu machen oder gar irgendeinen der Reichen zu belästigen.

Dieser Tag, Jesu Geburtstag, im Jahre 2006, war nichts Besonderes - 21.777 an Hunger gestorbene Kinder, halt ein Tag wie jeder Tag.