Theologische Vorlesungen im Jahre 2735
-Die dunklen Tage-
von Norbert Piechotta
“Meine Damen und Herren”, begann der Dozent, “ leider sehe ich wenig Interesse an dem Thema der angebotenen Vorlesung “Die dunklen Tage - Kirche im 20. Jahrhundert”. Dabei ist gerade in diesem Jahrhundert, besonders kurz vor der Jahrtausendwende Bedeutendes, Einschneidendes, ja Revolutionäres in unserer Kirche geschehen. Hier sind die Wurzeln für das auszumachen, was dann in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts so nachhaltig noch Wirkung auf unseren heutigen Glauben, unser Denken und unser Empfinden hat. Nichtsdestotrotz - ...”
An dieser Stelle runzelte Trebron Attocheip seine Stirn, griff, wie wenn verlegen, an seine Nase, straffte sich, als ob er einen schweren Entschluß getroffen hätte, und fuhr fort: “Unschwer könnten wir aus der angebotenen Vorlesung bei der Zahl der Interessenten -sein Blick schweifte über die 18 Teilnehmenden- genauso gut ein Intensivseminar machen.”
An den Reaktionen einzelner merkte er, daß ein Teil sich sofort sperrte, bedeutete es doch mehr Arbeit, als ein bequemes Sitzen und sich Beträufelnlassen mit dem theologisch-historischen Wissen, das zwar noch auf damaligen Computer-CD´s abgespeichert und verfügbar war, das aber ganz in den Hintergrund angesichts der aktuellen Fragen in der Theologie gerückt war. Ihm ist es immer ein Anliegen gewesen, Dinge und Ereignisse der Vergangenheit empathisch-analytisch zu untersuchen und auf aktuelle Vorgänge umzudenken. Erstaunliche Parallelen in menschlichem Handeln und Denken taten sich auf, und oft fragte er sich, ob der Mensch, der sich Christ nennt, denn wirklich nach 2735 Jahren so wenig gelernt haben sollte.
“Ich schlage vor, daß zunächst einmal die Zeitungsarchive des Jahres 1995 in bezug auf das denkwürdige Ereignis des Kirchenvolksbegehrens 1995 in Österreich, Deutschland, Flandern, 1996 in Frankreich, Holland, USA und den folgenden Jahren in allen Teilkirchen auf dem Erdball zu untersuchen. Dem sollte dann das damals unter Verschluß gehaltene Material aus den damalig sogenannten Generalvikariaten gegenübergestellt werden. Das Militärisch-Absolute ist diesem Wort auch in der heutigen Zeit noch nachzuempfinden und wird sicherlich bei einem großen Teil der Anwesenden starke Gefühle des Unwohlseins erzeugen. Aber das war die damalige Wirklichkeit und für den aller größten Teil der damaligen Gläubigen wurde es nicht hinterfragt, als gottgegeben akzeptiert, daß die Institution Kirche einen fast absolutistischen Eingriff auf seine “Schäfchen” haben durfte. Ja, es erdummte sich manch ein Priester damals nicht, dieses Bild eines Nomadenvolkes in das industrielle Zeitalter zu übernehmen. Schlimmerweise schienen auch die regelmäßigen Kirchgänger, die sich den Kirchgang als zu ihrem Seelenheil gehörig verordnen ließen - aus heutiger Sicht müßte man Scheingläubigen sagen - nichts gegen diesen Vergleich zu haben. Für diese hatten die Aussagen des Neuen Testaments wenig Bedeutung. Auch die mosaischen Zehn Gebote hatten sich den fünf Kirchengeboten nachzuordnen, und das Wichtigste war für viele braven Kirchgänger eben jenes, das den sonntäglichen Gottesdienst einforderte. Diese Pflicht hatte man zu erfüllen, dann konnte frohen Herzens weiter das getan werden, was ohne die Sonntagsmesse sowieso getan wurde. Mit anderen Worten: Hatte der Kirchenbesucher sonntags die Heilige Messe besucht, so mußte er nicht mehr umkehren zu einem wahrhaftigeren, gottgefälligeren Leben in Familie, Beruf oder Freizeit. Nein, der Aufenthalt im Gotteshaus reichte für die Erlagnung des Seelenheils für die Woche. Frömmere freilich gingen öfter in das Haus, um ihren Gott zu suchen. Wirklich zu suchen? Wenn dem so gewesen wäre, hätten sie die Botschaft der Genesis nicht vergessen, daß sie als Ebenbild Gottes geschaffen waren - als Mann und Frau. Und nicht als Herdentier, das vom Schäfer geführt, von Hunden
bewacht sich zu schlachten lassen hatte, wenn die Zeit reif war.”
Hier hielt Trebron inne, denn das war unterrichtliches Wissen von 12jährigen und fast beleidigend für junge Frauen und Männer, die nach dem Maßstab des 20. Jahrhunderts durchschnittliche Intelligenzquotienten von 220 besaßen, bedingt durch die revolutionären Erkenntnisse der Gentechnik, die ja schon im Jahre 2071 das menschliche Genom komplett katalogisiert hatte. “Erst so spät”, sagen andere Wissenschaftler, denn selbst die Ressourcen der damaligen primitiven sogenannten Hochleistungsrechner und die Computervernetzung hätten diese Ergebnisse schon viel früher erbringen können.
“Ja, meine Damen und Herren, dieser höchstinteressante Bereich der industriellen Kirchengeschichte im Übergang zur öko-strophalen, also die Zeit von 1995 bis 2015, hatte als Erwachpunkt die Kirchenvolksbegehren der einzelnen Teilkirchen. Sie werden feststellen, wenn Sie sich sehr intensiv und detailliert mit dem Denken von Christen jener Zeit beschäftigen, daß spirituelle Dunkelheit herrschte, der menschliche Geist eingeengt wurde, viele Christen mutlos zürnend Gott anriefen und an ihrer Kirche zu verzweifeln drohten. Die Gründe will ich nur kurz umreißen mit den Stichworten Institutionalisierung, Behördenmentalität, Scheinheiligkeit, Heuchelei, Selbstbetrug, Negierung von psychologischen und soziologischen , von bio-physischen und kommunikativen Erkenntnissen, von exegetischer und theologischer Forschung, Eliminierung des Charismatischen und Prophetischen, absurde Dominanz eines “priesterlichen Amtes”.
Uns scheint es heute selbstverständliche theologische Aussage zu sein, daß die Wirkung des Heiligen
Geistes im 2. Vatikanum und besonders durch das so entscheidende 3. Vatikanum im Jahre 2007 wieder den Weg zu Gott freigemacht hat.
Sie werden hoffentlich erstaunt und erschüttert, hoffentlich auch fasziniert feststellen, wenn sie die primären, unverfälschten Texte im Wortlaut empathisch und analytisch sich verfügbar machen: wissenschaftlichen Aufsätze, Bücher, kirchliche Verordnungen, Erlasse, Verfügungen, etc., Leserbriefe zu kirchlicher Thematik, kirchliche Wochen- und Monatsschriften - mit welcher Unwahrhaftigkeit argumentiert und gelebt wurde. Ähnliches in kirchengeschichtlicher Sicht ist erst im Jahr 2217 feststellbar, als, Sie wissen es alle, die theologische Fundierung unseres gentechnologischen Grundgesetzes zu schweren Zerwürfnissen mit entsprechenden Begleiterscheinungen geführt hat.
Ich darf ein Ihnen sicherlich bekanntes Beispiel für die Unwahrhaftigkeit dieser Zeit geben. Im Jahre 1995 an einem Dienstag, dem 28.11. genauer gesagt, wurde von der städtischen Presse der Erzbischof von Köln, der damals sogar noch den Titel eines Kardinals trug, zitiert, indem er den erschreckenden Rückgang von Priestern sich nicht scheute wie folgt zu erklären: “Als Gottesliebe und Gottesverehrung im Mittelpunkt kirchlichen Denkens und Handelns standen, gab es genügend Priester- und Ordensberufe, genug dienende Berufungen.” Lassen Sie mich einige klärende und erklärende Worte dazu sagen. Gemeint hatte dieser Erzbischof wahrscheinlich das Mittelalter ca. 1100 bis 1400 n. Chr. nach der alten historischen Terminologie. Nur hätte er ehrlicher Weise sein Wissen aus kirchengeschichtlichen Vorlesungen befragt, so hätte er wissen und zugeben müssen, daß die vielen Priester und Mönche dieser Zeit sich hauptsächlich aus drei Gründen für diesen Lebensweg entschieden. Zunächst war es sicherlich eine Zeit, in der das Mystische und die Gottesverehrung eine wichtige Rolle spielte - eine unkritische, wundergläubige, naiv-inbrünstig glaubende. Die ausklingende unschuldige Zeit vor dem Humanismus, der Renaissance und der sogenannten Aufklärung, die einherging mit den ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen und den für die damalige Zeit erstaunlichen technischen Erfindungen wie Dampfmaschinen, Automobilen, Fluggeräten und Computern. Durch z.B. die Pest, eine Infektionskrankheit die durch mangelnde Hygiene in den entstandenen Städten hauptsächlich verursacht worden war, wurden die Vorstellungen vom Gottesgericht und des nahenden Christus natürlich genährt. Doch viel gewichtiger war für die einfachen Menschen dieser Tage die Frage: “Wie bekomme ich meinen Bauch gefüllt? Wie überlebe ich heute und morgen?” Und die Antwort lautete: “Mönche, Nonnen, Priester, Äbte und Bischöfe sind noch nie verhungert, also mache man es ebenso.” Lockende Beigabe waren Prestige und Ansehen, das man als Kirchenmensch genoß. Zudem wurde die höhere Geistlichkeit rekrutiert aus dem sogenannten Adel. Um weiter ihre Macht zu festigen und in der Regel auch weiter zu mißbrauchen, war es überlebensnotwendig, daß im Europa dieser Tage ein männliches Familienmitglied mit der entsprechenden Intrigierfähigkeit zum Machterhalt der Sippen und Familien “geopfert” wurde. Das aber nur offiziell, denn die Bischöfe, Äbte und Päpste hatten genügend leibliche Nachkommen und die Annehmlichkeiten der Konkubinates, so daß zumindest auch die Zukunft ihrer Kinder mit entsprechender Machtausübung und Einfluß gewährleistet war. Klar, daß es genug Kirchenmänner gab.
Die nächste Unehrlichkeit dieser Aussage liegt in “dienende Berufung”. Diese dreiste Behauptung muß nicht vertiefend erwähnt werden. Sowohl im Mittelalter wie erschreckender Weise sogar noch zur Jahrtausendwende existierte dieses in unseren heutigen Ohren so schizophren klingende Wort “Kirchenfürst”. Innerlich überkommt mich immer ein Frösteln, wenn ich mir dies bewußt mache. Selbst nach dem 2. Vatikanum konnte der unbedingte Wunsch, Menschen zu beherrschen, Macht, und zwar absolute, totalitäre Macht über Menschen auszuüben, noch nicht zu den kirchengeschichtlichen Akten gelegt werden. Daher rührt auch der Untertitel der ursprünglich geplanten Vorlesung “Die dunklen Tage”. Wie weit waren diese “Hirten” doch weg von dem Ursprung, von IHM. Welch eine perverse Art des Denkens und Fühlens bestimmte doch die Machthaber der damaligen Kirche - der enge, machtversessene und -gierige Kreis um den Bischof in Rom, die sogenannte römische Kurie- die sich darin überboten, ihrer “Würde” gemäß dies hierarchisch-lexemisch ausdrücken zu lassen mit ehrwürdige, hochwürdige, sehr hochwürdige und hochwürdigste Herren. Dem folgten die hochwürdigsten Exzellenen unter den hochwürdigsten Eminenzen. Und diese schauten auf zu Seiner Heiligkeit.
Mag sein, daß Seiner Heiligkeit dies alles bewußt war, nur - Veränderung und Besinnung ging von ihm nicht aus. Zu sehr gefangen war der vorletzte traditionell römisch-katholische Papst in seinem Bewußtsein von der Richtigkeit dieser Hierarchie. So blieb seine symbolische Fußwaschung vor Ostern von gewaschenen und parfümierten Greisenfüßen symbolisch-unwahrhaftig. Wie hätte das Ansehen dieses Mannes sein können, in welche Zukunft hätte er schon vor der Jahrtausendwende weisen können, wenn er am Gründonnerstag stattdessen menschliche Zuwendung, Liebe und symbolische Nähe z.B. den AIDS-Kranken gegenüber gebracht haben würde? Sie wissen, diese Immunschwächekrankheit, die anfangs hauptsächlich durch Sexualkontakt weitergegeben wurde und die die Forscher erst durch die Erfolge der gentechnischen Entwicklung im Jahre 2017 in den Griff bekommen hatten.
Wie äonenhaft entfernt waren er und seine Exzellenzen und Eminenzen doch von dem Mann von Galilea entfernt, der wahrhaftig diente, der die Männer und Frauen so tief liebte, daß auch heutzutage noch unverständlich ist, warum dies durch seinen Tod den Menschen deutlich vor Augen geführt werden mußte.
Er überzeugte durch seine Person und sein Leben zutiefst. Wahrhaftigkeit und die Übereinstimmung mit dem göttlichen Prinzip der Liebe waren das Geheimnis seiner Wirkung auf die Menschen und das, was Menschen als Kirche erfuhren - zu allen Zeiten, an allen Orten. Und dies geschah leider nicht so oft in den Gotteshäusern und den sogenannten heiligen Messen. Leider war das, wie wir aus zeitgenössischen Zeugnissen wissen, sehr oft ein Absitzen von Zeit, weil gottesdienstliche Pflicht. Daß Gottesdienst alltäglich, allstündlich und allminütlich stattfinden sollte, diesem entsetzlich forderndem Gedanken, diesem Bewußtsein konnte sich der durchschnittliche Gläubige, Priester, Kardinal und Papst nicht hingeben. Zu wenig entwickelt waren sozio-psychologische, bio-physische, theologisch-empathisch-analytische Determinanten in diesen dunklen Tagen des Christentums.
Kurz, ich lade Sie ein, zu einer intensiven Arbeit in Form eines Intensiv-Seminars und kann guten Gewissens versprechen, daß Ihre Eigentätigkeit und Ihre Selbständigkeit Ihnen vertiefte Einsichten geben werden, was durch simples Rezipieren in dieser Dimensionalität nicht oder kaum möglich ist. Der genetische Empathie-Koeffizient ist auch hierfür nicht über den Faktor 0,795 zu steigern. Unauslöschbar wird erst Ihr intensives Forschen die Fakten und Informationen für Sie verfügbar machen.
Haben Sie noch Fragen? Wie sind Ihre Entscheidungen?”
Trebron öffnete seinen Geist und ließ anfänglich empathisch-telepathisches Chaos über sich hereinbrechen. Noch immer nicht war seine Generation in der Lage, differenzierte Gedanken und Gefühle aufzunehmen und zeitgleich zu verarbeiten.
Sagte man dem Menschen des ausgehenden 2. Jahrtausends die Möglichkeit einer Informationsverarbeitung von ca. 120 bit/sec nach, so hatte sich die Informationsgeschwindigkeit auf die zehnfache Menge mit entsprechender mnemotechnischer Stabilisierung erhöht. So sagte man auch den Menschen dieser Tage nach, daß sie lediglich 3 bis 10 Prozent ihrer geistigen Energie auszuschöpfen verstanden hätten.
Erst die Speicherung und empathische Aufnahme von Wissen, Gefühlen und Denkstrukturen über kristalline Module hatten die Menschheit tiefgreifend verändert. Dies hatte natürlich nicht die Klärung der letzten Fragen, die Menschen immer bewegt hatten, bewirkt. Im Gegenteil! Je mehr die Menschen über sich und die Welt erfuhren, desto unwahrscheinlicher wurde es, daß je auch nur im Ansatz die Geheimnisse geklärt werden könnten. Hatten intuitiv nicht schon die Denker des Altertums gesagt: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Oder der große Wittgenstein im 20. Jahrhundert die markante These vertreten: Selbst wenn alle wissenschaftlichen Fragen und Probleme geklärt wären, würden die Menschen noch weit entfernt sein, von dem was wichtig ist. Wie recht diese frühen Denker doch hatten.