Unser aller Gott

von Dr. Wolfgang Sabel

Die Welt ist enger geworden. Menschen aus anderen Kulturen, mit anderen Religionen leben neben uns und mit uns. Frauen, Männer und Kinder mit fremden Namen, die auszusprechen uns manchmal schwer fällt, begegnen uns auf der Straße, in der Schule, im Supermarkt, in der Arztpraxis. Nicht selten haben wir Schwierigkeiten, ihre Eigenarten und ihre Gebräuche zu verstehen. Viele von ihnen fühlen sich immer noch als Fremde, obwohl sie über viele Jahre hier leben.

Dabei denke ich an ein Erlebnis vor mehreren Jahren, als ich mit Freunden während eines Urlaubs in ein kleines türkisches Fischerdorf zwischen Marmaris und Bodrum verschlagen wurde. Wir fühlten uns fremd, waren unsicher, verstanden die Sprache nicht, hatten unsere Selbstsicherheit, die wir in unserem eigenen Lande zeigten, verloren. Ein freundlicher junger Mann lud uns zum Essen ein. Die Familie überhäufte uns mit Freundlichkeiten, und als der Großvater - er hatte einige Jahre bei Ford in Köln gearbeitet - ein paar deutsche Worte sprach, fühlten wir uns mitten in der Türkei zu Hause. Stolz zeigte er uns später die kleine Moschee. Wir betraten diese wie eine unserer christlichen Kirchen in Deutschland. Als wir in dem stillen, fremdartigen Raume standen, wurde ich plötzlich von der Problematik unserer Situation eingefangen: Islam - Christentum, zwei wesensfremde Religionen verschiedener Kulturen und doch mit einer gemeinsamen Wurzel: Abraham, seine beiden Frauen Hager und Sarah und die Söhne Ismael und Isaak. Judentum, Christentum, Islam. Die Welt wurde auf einmal klein, und wir fühlten uns angesichts der großen Zeiträume der Geschichte nicht mehr so wichtig.

Meine Gedanken gingen weiter: warum bin ich katholisch, der Freund neben mir protestantisch, und warum ist der alte Mann mit dem Enkel auf dem Schoß ein Muslim? Ich stellte mir vor, ich wäre hier an der türkischen Küste als Kind türkischer Eltern geboren. Sicherlich wäre ich ein Muslim und würde, so wie ich in Deutschland als Christ den christlichen Gottesdienst besuche, hier als Muslime zur Moschee gehen und wäre überzeugt, daß dies der wahre Glauben sei. Und der alte Mann mit dem Enkel auf dem Schoß wäre im Oberbergischen geboren. Er wäre Christ und würde in der katholischen oder protestantischen Kirche zu seinem christlichen Gott beten.

Ich dachte noch weiter: unser Pfarrer Herweg, unser Bischof Meisner wären als türkische Kinder zwischen Marmaris und Bodrum von türkischen Eltern erzogen worden. Sie wären Muslime und würden sich mit derselben Energie, mit der sie sich für ihren christlichen Glauben einsetzen, für den Islam engagieren. Und sie wären überzeugt, daß dies der wahre Glaube sei. Ich stellte mir vor, alle, die wir am Sonntag in der Kirche beten, wären irgendwo in der Türkei geboren. Wir wären alle Muslime, würden andere Gebete sprechen, andere Lieder singen und nicht in der Bibel, sondern im Koran lesen.

Es fällt mir schwer zu glauben, daß Christ-Sein ein Gnadengeschenk Gottes sein soll, daß wir, die Christen, die Auserwählten sind, daß wir, die Christen, das Heil schon in uns tragen, die anderen aber, die Muslime und die Juden draußen stehen und diese nur auf Umwegen zum Heil kommen sollten, wie unser Pfarrer Herweg predigt.

Dieser Gott, unter welchem Namen wir ihn auch anrufen, welches Gebet wir auch zu ihm sprechen, ist er letztendlich nicht unser aller Gott, der Gott der Christen, der Muslime und der Juden, auch wenn wir von ihm ein anderes Bild haben, bedingt durch verschiedene Kulturen? Hatte Gott durch seinen Engel nicht auch Hagar, der Frau Abrahams und der Mutter Ismaels prophezeit: “Deine Nachkommen werde ich so zahlreich machen, daß man sie nicht zählen kann?”

Nicht nur Isaak, auch Ismael, der Vater der Muslime, steht als Sohn des Abrahams unter Gottessegen. Das ist der Gottesbund, geschlossen vor Tausenden von Jahren. Was haben wir aus diesem Gottesbund gemacht?

Wenn wir zurückblicken, sehen wir, daß Religion nicht Frieden, sondern Krieg stiftete. Vielleicht ist dies die größte Sünde des Menschen gegen Gott. Auch heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Religion weit davon entfernt, friedenstiftend in der Welt zu wirken.

Zugegeben: vieles in unseren Religionen ist grundverschieden, für den Andersgläubigen schwer verständlich, nicht immer nachvollziehbar. Aber haben wir nicht vieles gemeinsam? Warum bringen wir es nicht fertig, auf den fremden Bruder, auf die fremde Schwester zuzugehen, ihnen zuzuhören und zu versuchen, sie zu verstehen, warum sie anders beten, warum sie eine andere Vorstellung von Gott haben, ohne den Eindruck zu erwecken, sie zu vereinnahmen?

Und ist Gott nicht so unendlich groß, daß eine einzige Religion - auch das Christentum- diesen Gott allein gar nicht erfassen kann und daß jede Religion, auch die unsrige, den Menschen nur ein kleines Bruchstück von Gott zeigen kann?

Keiner von uns ist im Besitz der Wahrheit; wir sind alle unterwegs zu ihr.