Unterwegs zur Weltökumene
von Wolfgang Sabel
Religiöses Denken vollzieht sich heute zwischen zwei Polen: zum einen zwischen einem Religionsverständnis mit Absolutheits- und Ausschließlichkeitsanspruch und zum anderen zwischen einer Religionssicht mit einer ökumenisch-pluralistischen Vision.
Bestehende Trends weisen darauf hin, dass die religiösen Traditionen sich in zwei Richtungen bewegen werden. Auf der einen Seite setzt sich bei der jüngeren Generation, soweit sie bereit ist, sich mit dem Religiösen noch auseinander zu setzen, mehr und mehr eine pluralistische Sicht durch. Sie sieht in der eigenen Religion nicht mehr die von den jeweiligen Institutionen geforderte Exklusivität, sondern eine besondere Art der durch die jeweilige Kultur geformte universelle Religiosität. Auf der anderen Seite besteht bei den religiös Etablierten eine gegenläufige Entwicklung in Form des religiösen Fundamentalismus, der an traditionellen Wert- und Denkweisen festhält; aufgrund der persönlichen Biographie jedoch ist man nicht bereit, Tradiertes kritisch zu hinterfragen.
Die Erfahrung vergangener Entwicklungen zeigt jedoch, dass der kritische Geist sich letzten Endes der Wahrheit wegen durchsetzt und neue, anfänglich verwirrende Erkenntnisse aufnimmt, sie in sein Denken einbringt und mit dem Aufgenommen konsequent weiterarbeitet. Wie wäre es anderes möglich gewesen, aus dem gehorsamen, obrigkeitskonformen Menschen des Mittelalters den kritischen, fragenden Menschen der Neuzeit zu machen? Wie selbstverständlich haben sich revolutionäre Erkenntnisse wie zum Beispiel die Evolution des Lebens, die laut ausgesprochen vor wenigen Jahrhunderten noch zum Scheiterhaufen führten, heute im christlichen Denken durchgesetzt. So ist davon auszugehen, dass in nicht allzu ferner Zukunft es für die meisten gebildeten Christen eine Selbstverständlichkeit sein wird, ein pluralistisches Verhältnis zu den Religionen zu entwickeln, weit weg vom heutigen Dogmatismus.
Die großen Religionen, das gilt auch für das Christentum, werden lernen müssen, sich jeweils als eine Religion unter vielen gleichberechtigten Religionen zu begreifen und ihren Absolutheits- und Ausschließlichkeitsanspruch aufzugeben. Dabei gilt es, andere Religionen nicht nur passiv zu tolerieren, sondern sich auch mit der Vielgestaltigkeit der einzelnen Traditionen auseinander zu setzen, das Gemeinsame herauszuarbeiten, ohne die vorhandenen Differenzen zu verdrängen. Zunehmend wird sich eine interkulturelle Theologie bilden, die das Fremde erklärt, erläutert und bereichernd in das eigene religiöse Denken aufnimmt, ohne das Spezifische der eigenen Religion aufzugeben. Es liegt auf der Hand, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion in den allermeisten Fällen von zufälligen Geburtsumständen abhängig ist. Wer im buddhistischen, muslimischen, jüdischen, christlichen Kulturraum geboren und aufgewachsen ist, wird der entsprechenden Religion angehören und in der Gewissheit leben, dass diese für ihn die richtige und wahre Religion ist.
Auch in der christlichen Tradition zeigen sich massive Spannungen zwischen dem traditionellen und progressiven Denken. Christliches Denken fühlt sich nicht mehr dem Absolutheitsanspruch verpflichtet, besonders da die Weitergabe theologischer Forschungsergebnisse den Gläubigen nicht selten verwehrt wird. Hier haben sich bereits neue Formen christlichen Denkens entwickelt, die sich nicht aufhalten und nicht mehr ignorieren lassen. Theologie ist eine freie forschende Wissenschaft, ihre Ergebnisse oft überraschend und nicht immer passend. Es ist an der Zeit, den Glauben auf das Wissen der Zeit zu bringen. Dogmatisch festgelegte Glaubenssätze müssen hinterfragt werden Über Erbsünde, Erlösung, Trinität, ja über die gesamte Christologie muss neu nachgedacht werden, wenn die Kirchen ihren Wahrheitsanspruch nicht verlieren wollen.
Wir sind auf dem Weg zu einer Weltökumene. Unser religiöses Leben wird sich zwar weiter innerhalb der betreffenden Traditionen abspielen, allerdings wird die jeweilige Konfession im Hinblick auf das Ziel nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Wir werden weiterhin Christ, Jude, Muslim, Buddhist, Hindu, Taoist, Shintoist sein. Jede dieser Religionen, auch die unsrige, kann uns nur ein kleines Bruchstück von Gott zeigen. Aber diese Bruchstücke können sich ergänzen und uns gegenseitig bereichern.
Keine Religionsgemeinschaft ist im Besitz der vollen Wahrheit. Noch sind wir alle unterwegs zu ihr.