Was wissen wir über den historischen Jesus?
Wolfgang Sabel
Mit der Wiederentdeckung der jüdischen Wurzel unserer christlichen Religion wächst das Interesse an der Biographie des Jesus von Nazaret. Zugleich verblaßt und schwindet die philosophisch–theologische Gestalt des Christus, des menschgewordenen Logos, ein Produkt der hellenistischen Metaphysik.
Schwierigkeiten bei der Suche nach dem historischen Jesus bereitet allerdings die Feststellung, daß Jesus als Wanderprediger nichts Schriftliches hinterlassen hat. Die uns vorliegenden Evangelien sind aus der Erinnerung gedeutete Interpretationen des betreffenden Schreibers, beeinflußt durch unterschiedliche Kulturräume und die jeweilige Sicht des nachösterlichen Geschehens. Tatsächliches und fromme Deutung wurden mit der Zeit so vermischt, daß Historisches zur Unkenntlichkeit verfremdet wurde. Die Kindheitserzählungen, die Wundergeschichten und der Osterbericht sind so zu erklären. Hinzu kommt, daß die Evangelisten keine Zeitzeugen waren und ihre Berichte erst Jahrzehnte nach dem Tode des Nazareners aufschrieben.
Die historisch-kritische Bibelwissenschaft, die sich bereits im 17. Jahrhundert mit Spinoza dem Menschen Jesu zuwandte, wurde im vergangenen Jahrhundert mehr von der protestantischen, weniger von der katholischen Theologie aufgenommen und fortgesetzt. Hatten Bultmann und Albert Schweitzer resignierend festgestellt, daß in den ihnen zugänglichen Schriften keine nennenswerten biographischen Aussagen über Jesus möglich waren, so hat die Forschung in den letzten Jahren doch erhebliche Erkenntnisse über das Leben Jesu gewonnen.
Die Bibelwissenschaftler entwickelten eigene Methoden um ein weitgehend zuverlässiges biographisches Bild zu bekommen. Wichtig war, daß in den Evangelien tatsächlich der Orginalton des Jesus verborgen war, allerdings durch die Interessenlage des Berichterstatters fast zur Unkenntlichkeit verfremdet.
Hubertus Halbfas, faßt in seiner Bibelausgabe die neuesten Forschungsergebnisse wie folgt zusammen: „Es besteht Konsens, daß Jesus aus Nazaret stammt. Er war der älteste Sohn einer Handwerkerfamilie; seine nachfolgenden Brüder hießen Jakobus, Joses, Judas und Simon; seine Schwestern werden namentlich nicht genannt. Als jüdischer Junge wurde er beschnitten, lernte die hebräische Bibel lesen und besuchte regelmäßig die Synagoge. Im überschaubaren Dorf wuchs Jesus unauffällig heran und arbeitete wie sein Vater als Bauarbeiter. Die Teilnahme am synagogalen Gottesdienst, das Hören und Bedenken der heiligen Schrift, dürfte die entscheidende Grundlage seiner religiösen Bildung gewesen sein.
Irgendwann nach dreißig dunklen Jahren brach er aus der Familie aus, möglicherweise durch Johannes den Täufer provoziert. Er wurde dessen Anhänger und ließ sich von ihm taufen. Doch blieb er nicht lange in der Gefolgschaft des Johannes, sondern begann eine Tätigkeit als Wanderprediger in der galiläischen Heimat. Mit seinem Abschied vom Täufer gewann er eigenes Profil: Vertrat Johannes die Gerichtsdrohung Gottes, so betonte Jesus positiv die Zuwendung Gottes zu den Menschen. Entsprechend verharrte er nicht in der Einsamkeit und Strenge der Wüste, sondern suchte die Menschen dort auf, wo sie lebten. Mit gemiedenen Menschen ging er freundschaftlich um. Die offene Tischgemeinschaft, die er über alle Konventionen pflegte, verstand er als Vergegenwärtigung des Reiches Gottes im Hier und Heute. Er erregte Aufsehen und Widerspruch und wurde „Fresser und Säufer, Freund der Zöllner und Sünder" genannt. Sein Verhalten war aber weder Schwäche noch Fehltritt, sondern Programm, das von seinem Gottesverhältnis bestimmt wurde.
Drei Generationen vor Jesus hatten die Römer die Herrschaft im Land übernommen. Die Fremdherrschaft spaltete die Gesellschaft, so daß sich unterschiedliche Parteien bildeten, die einander haßten und bekämpften. Die politische Zerrissenheit mischte sich mit Richtungskämpfen, die auch Jesus berührten. Ob oder inwieweit ihn die Qumran-Essener beeinflußt haben, wird kontrovers diskutiert. Die wichtigsten Gruppen, mit denen Jesus – den Evangelien zufolge – in Berührung kam, waren die Pharisäer und die Sadduzäer. Zu den Sadduzäern gehörten die Tempelpriester, die Leviten, sowie Höflinge, reiche Landbesitzer und Kaufleute, insgesamt Menschen eher konservativer Einstellung, die politisch interessiert waren und aus eigener Interessenlage durchweg römerfreundlich. Sie nahmen die Tora wörtlich, aber lehnten deren Auslegung im Rahmen einer weitergehenden mündlichen Überlieferung ab. Das brachte sie in Gegensatz zu den Pharisäern, einer Erneuerungsbewegung im jüdischen Volk, zu der ebenso Handwerker und Bauern zählten wie studierte Menschen.
Unter den Pharisäern hatte Jesus Freunde und Gesprächspartner. Wahrscheinlich gehörte er selbst in dieses Spektrum, das sich in unterschiedliche Schulen teilte, die sich oft wechselseitig kritisierten. So nahm auch Jesus für und wider bestimmte Positionen Partei. Die in den Evangelien erscheinende Kritik Jesu an den Pharisäern spiegelt jedoch ein Feindbild, das sich erst entwickelte, nachdem sich die späteren Jesusgemeinden von den Synagogengemeinden getrennt hatten.
Das öffentliche Wirken Jesu hat nicht lange gedauert. Nach Markus war es rund ein Jahr, nach dem Johannesevangelium zwei bis drei Jahre. Der Markus-Tradition spricht man höhere Wahrscheinlichkeit zu. Bei einem Besuch Jerusalems am Paschafest – vielleicht im Jahre 30 - kam es zu einem Konflikt mit den Tempelklerus. Dieser Konflikt wurde vermutlich durch eine prophetische Zeichenhandlung ausgelöst, die sich gegen den Tempelbetrieb richtete. Das hatte die Festnahme Jesu zur Folge und eine Überstellung an die römische Justiz. Man bezichtigte ihn messianischer Umtriebe, mit denen Pilatus kurzen Prozess machte. Er wurde wie viele andere, die als Unruhestifter und Aufrührer galten, am Kreuz hingerichtet.
Das überraschende Ende seines jungen Lebens scheint in seiner Anhängerschaft unterschiedlich verarbeitet worden zu sein. Während in der galiläischen Heimat – nach dem Zeugnis des Thomasevangeliums und der Logienquellen Q zu urteilen – seine Jünger Jesu Wirken und Lehren in den ersten Jahrzehnten fortsetzten, ohne ihn selbst zum Inhalt ihrer Botschaft zu machen, wurde er vorwiegend im hellenistischen Bereich als Gekreuzigter und Auferstandener zum zentralen Gegenstand der Verkündigung.“ (Die Bibel, erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas, Patmos-Verlag 2001, S. 354 -355)
Soweit Halbfas in seiner kommentierten Bibel. Hinzuzufügen wäre, daß das hier aufgezeigte Jesusbild sich keineswegs mit dem Jesus deckt, der uns in unserer Kindheit vermittelt wurde und mit dem heute noch viele Christen unreflektiert leben. Erstaunlich ist, obwohl die Ergebnisse der modernen Jesusforschung jedem zugänglich sind, daß diese auf der sonntäglichen Kanzel noch nicht angekommen sind. Warum? Bleibt noch die entscheidende Frage: Wie geht der mündige Christ mit diesem wiederentdeckten Jesus um?