„Wenn Hirten zu Propheten werden“

Willi Mitzkewitz

Die Weihnachtserzählung von Lk 2,1-21, die in deutschen Landen zu einem „frommen Wildwuchs“ von Liedern, Geschichten und Bräuchen führte, will weder historisierend-protokollarisch über die Geburt Jesu berichten noch als gemütvolle Legende der Erbauung dienen. „Das Kind im Futtertrog“ wird in einer haggadisch-apokalyptischen Erzählung von Lukas in den großen geschichtlichen Raum des römischen Weltreiches gestellt, wobei die gegenwärtige und zukünftige Bedeutung dieses Ereignisses herausgestellt werden soll. Wobei ein klarer Gegensatz zum Weltherrscher Cäsar Augustus gezeigt wird.

In dieser von der jüdischen Haggada geprägten Erzählung erhalten die „Hirten“ eine besondere Gewichtung. Sie werden die eigentlichen Empfänger und Verkünder der frohmachenden Botschaft. Die Erzählung ist eine Verkündigungs- und keine Geburtsgeschichte, eine Hirten- und keine Jesusgeschichte, in der die erlösende Funktion des „Kindes im Futtertrog“ als eine Verbindung von Himmel und Erde durch die liebevolle Tat Gottes gezeigt wird.

Es muß doch zu denken geben, daß von 21 Versen nur ein Vers (V. 7) sich mit der Geburt Jesu befaßt und das ganz undramatisch, nüchtern und sachlich. „Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen, sie wickelte ihn und legte ihn in einen Futtertrog, weil am Ort kein Platz für sie war.“ Die übrigen Verse befassen sich mit dem geschichtlichen Rahmen – Kaiser Augustus und König David – ( vier Verse ) und den Ereignissen bei den Hirten ( zwölf Verse). In diesen zwölf Versen liegt der Schwerpunkt der lukanischen Weihnachtserzählung. Neben der Einordnung in den geschichtlichen Rahmen des römischen Kaiserreiches und der davidischen Geschlechterfolge erhält die Erzählung ihre besondere Bedeutung, indem auf dem Hintergrund des kaiserlichen Erlasses die Engelbotschaft von der Geburt des „Erlösers“ ( Bedeutung des Namens Jesu) und Herrn (Kyrios) herausgestellt wird.

Augustus, der im Orient religiöse Verehrung erfuhr, wird durch den sich in der Engelsbotschaft offenbarenden Gott demaskiert. Im verarmten Davidssprößling offenbart sich das Heil der Menschheit von Gott her. Weil Jesus durch Joseph Davids Sohn ist, muß er in der Davisstadt Bethlehem (Haus des Brotes) geboren werden, was ihn als Christus und Herrn (V. 11) ausweist. Die Frage nach der Unterkunft liegt nicht im Erzählinteresse des Textes. Wichtig ist nur, daß er am geweissagten Ort (Mich 5,1) geboren wird. Dabei wird das Ereignis unglaublich schlicht und einfach erzählt. Es gibt keine Ausmalungen, die die Heilsbedeutung verdunkeln könnte. Als Erstgeborener ist Jesus nach Ex 13,12; 34,19 gottgeweiht. Der Erzähler ist weniger am Raum der Geburt als am „gewickelte Kind im Futtertrog“ interessiert, das als göttliches Zeichen für die Hirten dienen soll (V. 12). „Und dies sei euch das Zeichen: Ein Neugeborenes werdet ihr finden, das gewickelt ist und in einem Futtertrog liegt.“ Da die Feststellung, das „Kind im Futtertrog“ sei der Verheißene, die Erfüllung der Menschheitssehnsucht, nur schwer zu glauben ist, bedarf es mehr als dieses Hinweises. Es muß ein Wort der Offenbarung aus der „Höhe“ kommen. Die Erzählung erreicht dies, weil die nun folgende „Hirtengeschichte“ sich mit erfüllenden Zeichen aus dem AT deckt. Die Hirten sind Prototypen bekannter Hirtengeschichten aus dem AT. Schon der Stammvater Jesu, der König David, weidete seine Herden auf den Fluren Bethlehems (1 Sm 17,15.28.34ff). Von dort wurde er von Gott zum König berufen (1 Sm 16,1-3; vgl. Ps 78,70), für jeden Bibelkundigen ein wichtiger Hinweis.

Wer erinnert sich nicht an die Erzählung von Rut, der Urgroßmutter Davids, deren Geschichte sich gleichfalls in den Gefilden Bethlehems abspielte. Auf diesem Hintergrund offenbart sich die ganze Herrlichkeit Gottes in der Nacht vor den Hirten. Es sei hier auf das Motiv von Licht und Dunkelheit hingewiesen. Immer dort, wo sich die „furchterregende Herrlichkeit“ Gottes zeigt, wird der Mensch von „großem Schrecken“ befallen. Der Lichtglanz „umleuchtet“ in der Nacht die Hirten. Auffallend ist, daß nicht die „Krippe mit dem Kind“ im Lichtglanz der Engel liegt, sondern die Hirten.

Die Hirten sind es, denen als ersten die messianische Freude verkündet wird, dann erst dem Volk der Verheißung, und ab V. 14 wird der Rahmen der Erzählung geöffnet, allen wird das Heil zuteil. Lukas scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die am Rande der Gesellschaft lebenden Hirten Empfänger und Boten der Engelbotschaft werden.

Dem Leser wird nun neben den Hirten die rettenden Botschaft mitgeteilt: „Heute wurde euch der Erlöser (Retter), der ist Christus der Herr, in Davids Stadt geboren.“ Es handelt sich nicht um irgendeinen Messias, sondern den Messias. Das eschatologische Heil verwirklicht sich also im „Kind im Futtertrog“, und das ist das Zeichen für die Hirten. Das „Kind im Futtertrog“ ist ein denkbar starker Kontrast zum Cäsar Augustus mit seiner Macht und Pracht.

Das Ereignis ist so überwältigend, daß plötzlich die Fülle des himmlischen Engelheeres sichtbar wird und ein lobpreisendes hymnisches Lied anstimmt. Die Doxa Gottes – die Herrlichkeit – wird nun offenbar vor seinen Engeln, die ihn deswegen loben. Die Folge für die Menschen ist der Friede, nicht als Zustand von Nicht-Krieg und Nicht-Streit, sondern das Heil der Endzeit bricht an: Vergebung der Schuld und Sünde, das Licht des Lebens im Sinne von Jes 52,7. Für Lukas heißt das: Gott loben durch die Engel „oben“ und die Menschen „unten“. Der „gute Wille“ Gottes setzt den „guten Willen“ der Menschen in Bewegung und Gott wartet ungeduldig auf diesen Willen.

Standen bisher erstaunliche Ereignisse oder bedeutende Nachrichten im Mittelpunkt der Erzählung, wird sie nun monotoner (ab V. 15). Die Hirten werden jetzt zu Verkündern der wichtigen und frohmachenden Botschaft von Gottes Heilstat. Dabei fällt auf, daß nicht die Hirten, die das Wickelkind im Futtertrog finden, staunen, sondern ihre Zuhörer. Aber es genügt nicht, wie Lukas ausführt, die Worte und Taten nur aufzunehmen, sondern man muß sie wie Maria, Vorbild des Glaubens, verstehen und richtig deuten. Maria versteht, was sie gesehen und gehört hat, sie wird wie Abraham zum Typus des gläubigen Menschen.

Am Schluß der Erzählung wird Jesus durch die Beschneidung echter Jude, der in der jüdischen Gemeinschaft Aufnahme findet. Sein Name Jeschua = Gott rettet/erlöst ist Programm. Lukas zeigt in dieser Erzählung die Doppeldeutigkeit dieser kindlichen Existenz: die jetzige Armut und die zukünftige Größe, oder anders ausgedrückt: Jesu Leben auf das Kreuz hin und seine zukünftige Auferstehung.

Lukas hat eine Erzählung gestaltet, die im geschichtlichen Raum beheimatet ist und als Zeichen Gottes der Deutung durch das Wort bedarf. Im „gewickelten Kind im Futtertrog“ erweist sich Gott als Herr der Geschichte und das ganz anders, als von den Mächtigen dieser Welt erwartet.

Nicht kaiserlicher Machtanspruch oder religiöser Fanatismus werden durch die lukanische Weihnachtserzählung gestützt, sondern eine Haltung auf Gottes Tat, wie sie die Hirten und Maria repräsentieren.