Wer tötete Jesus?

von Wolfgang Sabel

"Als aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete,. sondern vielmehr ein Tumult entstand, nahm er Wasser, wusch seine Hände vor der Volksmenge und sprach: Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten. Seht ihr zu! Und das ganze Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!"( Matth 27,24 ff)

Ähnliche Texte finden wir bei Paulus, in der Apostelgeschichte, bei Markus, Lukas und Johannes. Jahr für Jahr hören wir von den Kanzeln unserer Kirchen diesen Text, der zum Ausgangspunkt der christlichen Judenfeindschaft wurde und eine unermessliche Blutspur durch die Jahrtausende bis in unsere Tage nach sich zog.

"Generationen von Juden sind in der ganzen christlichen Welt für ein Verbrechen bestraft worden, das weder sie noch ihre Vorfahren begangen haben. Schlimmer noch, jahrhunderte-, vielmehr jahrtausendelang wurden sie gezwungen, aufgrund des angeblichen Anteils ihrer Vorväter am Prozess und an der Kreuzigung Jesu alle denkbaren Formen der Peinigung, Verfolgung und Demütigung zu erdulden." (Chaim Cohn)

Für uns Christen gibt es hier nichts zu beschönigen. Diese fatale "Kollektivschuldthese" hat ihren Ausgangspunkt in den Passionsgeschichten der Evangelien, in denen das jüdische Volk für den Tod Jesu verantwortlich gemacht wird und dem römischen Präfekt Pontius Pilatus, dem tatsächlichen Täter, keine Schuld zugewiesen wird.

Wie ist diese Einseitigkeit zu erklären? Immerhin sind die Berichte der Evangelien für uns Christen von Gott inspiriert. Aber "auch göttliche Inspiration muss notwendig ihren Weg durch ein Menschenherz und einen sterblichen Geist nehmen, durch persönliche Vorurteile und gemeinschaftliche Auslegung, durch Furcht, Abneigung und Hass ebenso wie durch Glauben, Hoffnung und Liebe. Sie kann sich auch als inspirierte Propaganda äußern, und die Inspiration nimmt der Propaganda dann nichts von ihrer Eigenart." (Crossan).

Was sagt die historisch kritische Bibelforschung heute über das Passionsgeschehen?

1. Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Petrus und Thomas haben die ihnen zugeschriebenen Texte nicht verfasst. Die Evangelisten gelten lediglich als ihre fiktiven Verfasser. Über den jeweiligen Schriftsteller ist uns nichts bekannt. Die uns vorliegenden Berichte waren zunächst anonyme Schriften, die in den frühen christliche Gemeinden im Umlauf waren und erst im 2. Jahrhundert einer apostolischen Autorität zugeschrieben wurden. Zeit, Ort und Grund ihrer Abfassung und die Parteilichkeit ihrer Verfasser können allerdings an Hand der Texte analysiert werden und bilden so die Grundlage für die historisch-kritische Bibelforschung.

2. Die Evangelien sind Tendenzschriften, d.h. sie verfolgen eine bestimmte theologische, apologetische und polemische Absicht. Sie entstanden in einer Zeit (Petrus 40 n.Chr., Markus 70 n.Chr., Matthäus und Lukas 90 n.Chr. Johannes 100-110 n. Chr. ) harter und oft polemischer Auseinandersetzungen zwischen Judentum und Christentum. Die Christen, zunächst noch eine jüdische Sekte, trennten sich allmählich vom Judentum und entwickelten sich zu einer eigenständigen Religion. Diese Trennung war verbunden mit einer gegenseitigen starken Polemisierung. Die Feinde waren nicht mehr die Römer, auf deren Gunst man jetzt angewiesen war, sondern die Juden. Die Evangelien reagierten mit ihren Berichten auf "eine antichristliche Polemik" der Juden, welche die Christgläubigen ähnlich wie die Juden die Christen "als verschwörerische Gruppenbildung" hinstellte.

Wenn diese gegenseitige Polemisierung auf der religiösen Ebene verblieben wäre, hätte sie keinen großen Schaden anrichten können. Doch im 4. Jahrhundert wurde das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches. Der Antijudaismus, zunächst Gegenstand einer polemischen theologischen Auseinandersetzung, verwandelte sich mit dem Mächtigwerden des Christentums "zur potentiell mörderischen Lehre".

Die im NT immer wieder geschilderte Feindschaft und Gegnerschaft zwischen Jesus und den einzelnen jüdischen Gruppierungen werden von den Wissenschaftler mehr und mehr angezweifelt. "In der neueren historischen Jesusforschung setzt sich immer mehr die Meinung durch, dass das Bild ständiger feindseliger Konflikte zwischen Jesus bzw. der Jesusbewegung und anderen jüdischen Gruppierungen (wie z.B. der Pharisäer) eine Rückprojektion eigener Feindschaftserfahrungen der nachösterlichen Christen darstellt. Die Passionserzählungen, Teil des christlichen Neuen Testaments, wurden so zum Nährboden für einen theologischen Antijudaismus "aus dem zum schrecklich passenden Zeitpunkt der völkermörderische Antisemitismus erwuchs." (Crossan)

3. Die von den Evangelisten geschilderte Passions-geschichte sind keine Tatsachenberichte, sondern in Geschichte überführte Prophetie. Sie sind nicht das Ergebnis christlicher Quellenforschung, sondern entstanden aus der Lektüre der heiligen Schrift und wollten belegen, dass deren Prophezeiungen sich erfüllt haben. Zwei Fakten standen fest: Verhaftung und Hinrichtung. Für das, was zwischen Verhaftung und Kreuzigung geschah, gabt es keine Zeugen, da alle Jünger geflohen waren. Mit der Katastrophe am Kreuz konnten sich jedoch die Jünger nicht abfinden. So begannen schriftkundige jüdische Christen in den Schriften nachzuforschen und rekonstruierten das ihnen nicht bekannte Passionsgeschehen an hand von Zitaten aus der jüdischen Bibel.

Die Evangelisten historisierten so die Erfüllung verschiedener biblischer Prophezeiungen zu einer Geschichte der Passion Jesu: Diese Geschichte wurde aktualisiert, indem die jeweiligen Lebens- und Zeitumstände der christlichen Gemeinde mit in die Erzählung hineinfloss.

Aber weshalb wurde Jesus angeklagt und verurteilt, gegen welche Gesetze hat er verstoßen, wer hat ihn getötet?

Klaus Berger, Professor für neutestamentliche Theologie, schreibt: "Grund für die Hinrichtung Jesu war sein Anspruch, "König" zu sein. Als seine Mörder sind die Römer zu bezeichnen. - Der Grund für Jesu Hinrichtung war nicht oder wohl kaum: sein Anspruch auf Gottessohnschaft, auf Präexistenz oder seine Stellung zu Gesetz und Tempel. - Die neuere Forschung rechnet daher mit politischen und nicht mehr mit religiösen Gründen." (siehe auch Seite 5, Mußte Jesus am Kreuz sterben?)

Für den Theologen Wolfgang Stegemann (Neu-kirchener Theologische Zeitschrift 1, 98) ist Jesus oh-ne Beteiligung jüdischer Instanzen von Pilatus gekreuzigt worden. "Aus der Kreuzigung Jesu lässt sich auch der Grund der Hinrichtung Jesus entnehmen (antirömischer Aufruhr), von dort auf die möglichen Umstände seiner Gefangennahme durch die römischen Auxiliartruppen schließen. Seine Verkündigung bzw. auch eine mögliche Zeichenhandlung im Tempelheiligtum (Mk 11,15ff) könnten zum Auflauf geführt haben, aus dem heraus Jesus von Besatzungstruppen festgenommen wurde (vergleichbar ist die Festnahme des Paulus in Jeru-salem: Apg 21). Der Militärbefehlshaber Roms für Judäa hat dann in seinem Verhör Jesu den Verdacht bestätigt gefunden und in seinem Interesse an Ruhe und Ordnung im Lande - gerade in der sensiblen Situation eines hohen jüdischen Wallfahrtsfestes in Jerusalem - gehandelt." Historischen Beispiele aus der damaligen Zeit zeigen, dass römische Beamte gegen Aufrührer in Israel brutal vorgegangen sind.

J.D. Crossan, Professor für Bibelwissenschaft an der Depot University Chicago, ist aufgrund der heutigen Forschungsergebnisse der Meinung, "dass Jesus während des Passahfestes verhaftet wurde, und dass seine Jünger sämtlich ihr Heil in der Flucht suchten. Dass es irgendwelche Beratungen zwischen Kajaphas und Pilatus über Jesus oder Verhöre des Angeklagten durch eine dieser hochgestellten Persönlichkeiten gegeben hätte, glaubt er nicht. Die Vertreter der Obrigkeit werden sich von vornherein darin einig gewesen sein, dass im Falle irgendwelcher Unruhen während des Festes schnelles hartes Durchgreifen gegen die Unruhestifter geboten sei und dass es jedenfalls nicht schaden könne, gleich zu Anfang ein Exempel zu statuieren und einen Störer zu kreuzigen „pour decourager les autres." (um andere zu entmutigen, d.R.) Crossant glaubt nicht, dass die jüdische Polizei und das römische Militär sich wegen des Verfahrens mit einem galiläischen Bauern besondere Weisungen von oben holen mussten. Höchstwahrscheinlich war Jesu Kreuzigung für die ausführenden Organe eine reine Routinesache.

Für Crossan ist die Gefangennahme Jesu ein Resultat sozialer Revolution und politischer Subversion. Das auslösende Motiv für die Gefangennahme sieht Crossan in der Aktion einer symbolischen Tempelzerstörung durch Jesu Handlungen und Worte gegen den Tempel.

Christina Kurt gibt an, "das der messianische Anspruch Jesus zu seiner Verurteilung durch die römische Behörden geführt hat. Die reale Gefahr Jesu für das jüdische Volk wird entweder in seiner Selbstproklamation als König oder in dem durch diese ausgelösten Aufruhr im Volk gesehen."

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Thesen eines jüdischen Prozesses und jüdischer Schuld an der Kreuzigung weitgehend vom Parkett der Forschung verschwunden sind. Jesu Verhaftung und Hinrichtung muss aus dem ordnungspolitischen Regime der römischen Besatzungsmacht in Judäa erklärt werden. Eine jüdische Beteiligung ist aufgrund historisch-sachlicher, rechts- und sozialgeschichtlicher Gründe, den damals politischen Gegebenheiten, unwahrscheinlich. Ein jüdischer Prozess Jesu ist "als unhistorisch, d.h. als Retrojektion einer späteren Zeit zu deuten."

Die schwierige, aber entscheidende Frage ist: wie gehen wir mit dieser neuen Sicht der Passionserzählungen um? Welche Konsequenzen ergeben sich für unser christliches Verständnis, für unseren Glauben?

Wolfgang Stegemann sagt dazu: "Die mit dem Tod Jesu verbundene Verkündigung des christlichen Glaubens, in der die Lebenshingabe Jesu Christi als Befreiung von der Sünde ausgesagt wird, bedarf nicht der Behauptung einer jüdischen Schuld oder Mitschuld an der Kreuzigung Jesu. Sie bliebe also von dem historisch-sachkritischen Urteil, dass es keine jüdische Beteiligung an der Kreuzigung Jesu gegeben hat, unberührt. Doch die christliche Judenfeindschaft wäre um eines ihrer zentralen Argumente gebracht."

Nico Rubeli-Guthauser schreibt: "So oft in der Geschichte des Christentums war christlicher Glaube Gelüste ausschließlicher Besitz von Wahrheit, Aneignung der jüdischen Tradition, Macht um jeden Preis. Den Juden mit dieser christlichen Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, haben wir wieder und wieder ans Kreuz geschlagen, endlos das Opfer Christi wiederholend. Mit schmerzlicher Deutlichkeit haben wir Jahrhunderte lang bewiesen, wie grundsätzlich uns der Glaube an die Kraft des Ostergeschehens abhanden gekommen ist. Es ist für uns Christen eine ethische Notwendigkeit geworden, die Plausibilität nicht-plausibler Glaubensmodelle aufzubrechen, um das Todeskraut des Antisemitismus an seiner Wurzel zu bekämpfen."

Literatur: Klaus Berger: Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben? GTB 1452.

J.D.Crossan: Wer tötete Jesus?, Beck München.

J.D. Crossan: Jesus, ein revolutionäres Leben.

Neukirchener Theologische Zeitschrift 1.98: Wolfgang Stege-mann, Nico Rubeli-Guthauser, Christina Kurth.