Ökumenischer Kirchentag
Berlin, 31. 5. 2003
Warum heute noch Christ sein?
Hans Küng
Liebe Brüder und Schwestern,
herzlich danke ich der
KirchenVolksBewegung, der Kirche »von unten«, daß sie mich als ökumenischen
Theologen zu diesem ersten
Ökumenischen Kirchentag in der Bundesrepublik
Deutschland eingeladen hat. Das läßt mich frohen
Herzens verschmerzen, daß ich
das Vertrauen der »Oberkirche« offensichtlich noch immer nicht genieße und von
ihr, wiewohl ich für die Ökumene der Kirchen wie der Religionen seit vielen
Jahrzehnten alles Erdenkliche tat, keine Einladung erhalten habe. Doch Sie
erwarten von mir mein persönliches Zeugnis zur Einführung vieler weiterer
Zeugnisse von engagierten Christinnen und Christen in der heutigen Welt aus
Gesellschaft, Kirche und Politik: ein persönliches Zeugnis zum »Christ sein ohne
Heiligenschein«.
Persönliches zum
Heiligenschein? Schon vieles hat man mir nachgesagt, viel Gutes und manchmal
auch Böses. Aber noch niemand hat mir nachgesagt, ich trüge einen
Heiligenschein. Allerdings auch niemand, ich sei ein Scheinheiliger. An sich
habe ich nichts gegen Heiligenscheine: Was wären all die byzantinischen Mosaiken
oder frommen Bilder der italienischen Renaissance oder des deutschen Barock ohne
sie, die Aureole, den runden oder ovalen goldfarbigen Strahlenkranz, der die
Figuren umgibt! Aber die Kirchenväter und die mittelalterlichen Theologen
mahnen, diese Gloriole sei eine Belohnung für bestimmte Tugendakte in der
himmlischen Glorie, wo sie den Jungfrauen, Märtyrern und Kirchenlehrern wegen
ihres Triumphes über das Fleisch (die Jungfrauen), den Tod (die Märtyrer) und
den Teufel (die Kirchenlehrer) verliehen werde … Alles für uns heute, meine
lieben Freunde, doch eine etwas ferne, fremde, mittelalterliche Welt – nichts
für moderne, gar nachmoderne Menschen.
Mit Christ sein, wie ich und wohl die meisten hier in der Welt von heute es verstehen, hat all das wenig zu tun. Nach dem Neuen Testament darf man gewiß von »Heiligen« reden, aber nur unter drei Bedingungen
1. daß wir nicht nur einzelne Heiliggesprochene als Heilige bezeichnen, sondern alle Glaubenden und Getauften. Alle sind wir »Erwählte« und »Heilige«, alle sind wir das »heilige Volk«, wie es im Hebräerbrief heißt (13,12ff);
2. daß wir nicht von selbstgemachten Heiligen sprechen, sondern von »berufenen Heiligen« (1Kor 1,2; Röm 1,7). Nicht von Kirchen Gnaden sind wir heilig, sondern von Gottes Gnade sind wir im Glauben gerechtfertigt und geheiligt;
3. daß wir uns der
bleibenden Sündhaftigkeit, Bedrohtheit und Angefochtenheit bewußt bleiben, wohl
wissend, daß die Front zwischen
Gut und Böse nicht, wie ein
amerikanischer Präsident meint, zwischen »uns« und »den anderen« verläuft,
sondern mitten durch unser, Herz, das leider zu Gutem wie Bösem fähig
ist. Gibt es doch nur unvollkommene, nur fehlbare Christenmenschen. Und gibt es
doch erst recht keine vollkommene Kirche, sondern nur eine Kirche der Sünder,
heilig und sündig zugleich, und gerade so eine Ecclesia semper reformanda, eine
immer wieder neu zu reformierende Kirche.
Doch nun genießen unsere
beiden christlichen Großkirchen – der neuesten InternetUmfrage (mit über
350’000 Befragten) zufolge – von allen öffentlichen Institutionen am wenigsten
Vertrauen (unterboten nur noch von den politischen Parteien): 64% der ADAC und
53% die Polizei, dagegen 17% die evangelische und gar nur 11% die katholische
Kirche, die doch in der Konzilszeit einen enormen
Vertrauensaufschwung erlebt
hatte. Unsere Hierarchen wollen es nicht ernst nehmen: Allzu viele Menschen
haben vor allem in den letzten Jahrzehnten den Kirchen den Rücken gekehrt. Allzu
viele identifizieren das Christentum gerade römischkatholischer Prägung mit
Bürokratie, Massenmanifestationen, Lehrdiktat, Sexualkomplex und
Frauendiskriminierung.
So fragen denn manche: Sollen wir mit den Kirchen nicht auch das Christentum abschreiben? Doch nein, wir, die wir auf diesem Ökumenischen Kirchentag sind, bezeugen zumindest dies, daß wir am Christentum nicht verzweifelt sind; bezeugen, daß Christ sein für uns nach wie vor eine große Lebensoption darstellt; bezeugen, daß wir die Hoffnung nicht aufgegeben haben, auch unsere »Oberkirchen« könnten wieder »christlicher« werden. Aber, meine Lieben, was heißt dann überhaupt »christlich«? Wie sollen wir heutzutage das Christ sein verstehen? Wie uns als Christen verstehen? Ja, wie verstehe ich mich als Christ?
Nicht anders als viele aus
der älteren Generation bin ich im traditionellen Katholizismus aufgewachsen:
Christ ist, wer zur Kirche geht, die kirchlichen Sakramente empfängt und dem
Papst gehorsam ist. Meine siebenjährige römische Ausbildung hat mich in die
ganze komplizierte Dogmatik des Christentums eingeführt mit ihren zahllosen
Dogmen und Doktrinen von der Trinitätslehre über die Christologie bis zu den
»letzten Dingen«. Die Theologie des großen protestantischen Theologen Karl
Barth, mein Doktoratsthema, hat vieles davon korrigiert, aber einiges auch
bestätigt. Lange habe ich zunächst von diesen eher dogmatischen Antworten
gelebt. Aber mehr und mehr habe ich Hunger empfunden, wie ihn heute viele
empfinden, Hunger nach dem, was Christ sein ursprünglich, eigentlich,
wesentlich bedeutet. Doch hat es für mich als Theologen Jahre gedauert,
bis mir völlig deutlich wurde, daß das Wesen des Christentums nicht in einem
spitzfindig formulierten Dogma oder einem hehren Moralgebot liegt, nicht
irgendeine große Theorie oder Weltanschauung meint, nicht ein kirchliches System
ist – sondern was?
Für mich, meine Theologie und sicher für viele hier bedeutete die große Wende während und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Neuentdeckung Jesu von Nazaret als geschichtlicher Gestalt! Das ist nicht naiv zu verstehen als plötzliche Erleuchtung. Nein, durch Jahre hindurch habe ich mir das einzigartige Profil des Nazareners aufgrund der überreichen biblischen Forschung der letzten zweihundert Jahre erarbeitet, habe alles mühsam durchdacht und bis ins letzte begründet, schließlich habe ich diesen Einen auch mit den wenigen anderen auf Dauer maßgebenden Gestalten der Weltgeschichte verglichen, die ich verehre: mit dem Buddha, mit Konfuzius, mit Mose und dem Propheten Muªammad. Ich weiß also, wovon ich rede, wenn ich jetzt ganz elementar sage: Das Wesen des Christentums? Es ist schlicht dieser Jesus von Nazaret als der Christus. Und wer ist ein Christ? Der auf seinem ganz persönlichen Lebensweg (und jeder Christ, jede Christin hat einen eigenen) versucht, sich bemüht (mehr ist nicht verlangt), sich an diesem Jesus Christus zu orientieren. Dies ist mir noch selten so deutlich geworden wie in jener Kirche von San Salvador, wo Erzbischof Oscar Romero, engagierter Verteidiger der Rechte seines Volkes, direkt aus dem Auto am Altar erschossen wurde, und wo ich auch zugleich des evangelischen Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King und des polnischen Priesters Popieluszko gedacht habe. Allesamt haben sie gezeigt, daß diese Orientierung an Jesus sich sogar bis in den gewaltsamen Tod hinein durchhalten läßt.
Auch mein eigenes, weniger
dramatisches Leben mit seinen Höhen und Tiefen, meine Theologie mit ihren
Stärken und Schwächen und eben auch meine Kirchenkritik kann man nur von
daher verstehen. Daß die offizielle Glaubensverkündigung und Kirchenverfassung
zu sehr im Mittelalter zurückgeblieben ist und oft noch nicht einmal die Moderne
erreicht hat, kritisiere ich gewiß auch. Aber meine Kirchenkritik kommt zutiefst
aus dem Leiden, das heute von vielen unter uns geteilt wird: daß die
Diskrepanz zwischen dem, was dieser geschichtliche Jesus war, verkündete,
lebte, erkämpfte, erlitt, und dem, was heute die institutionelle Kirche mit
ihrer Hierarchie repräsentiert, unerträglich groß geworden ist. Jesus im
Petersdom? Oder im neuerdings wieder fromm betenden Weißen Haus? Nicht
auszudenken. Mit Dostojewskis Großinquisitor: »Warum kommst du uns zu stören?«
Am allerdringendsten und
befreiendsten für unser Christsein ist es, uns theologisch wie praktisch nicht
so sehr an traditionellen dogmatischen Formulierungen und Regulierungen zu
orientieren, sondern wieder mehr an der einzigartigen Gestalt, die dem
Christentum den Namen gegeben hat. Sie kann gewiß nur über den »garstigen Graben
der Geschichte« (Lessing) erkannt werden, darf aber auch immer wieder in einem
neuen Kontext gesehen werden. Maßstab für diese Orientierung darf aber
nicht ein
erträumter, sondern nur der wirkliche Christus sein, wie wir ihn aus dem Neuen
Testament erkennen: die ganze konkrete, menschliche Gestalt in ihrer
geschichtlichen Unverwechselbarkeit, auch wenn uns die historische Person nicht
direkt verfügbar ist.
Über viele Details in den allesamt von Menschen verfaßten neutestamentlichen Quellen kann man streiten. Für unsere Lebenspraxis aber ist das Entscheidende der Botschaft Jesu völlig eindeutig: die frohe, erfreuliche Botschaft von einer neuen Freiheit:
– sich gerade in Zeiten von Börsenfieber und Shareholder value nicht beherrschen lassen von Gier nach Geld und Prestige,
– sich gerade in Zeiten einer neuaufgelebten imperialistischen Politik nicht beeindrucken lassen vom Willen zur Macht,
– sich gerade in Zeiten einer beispiellosen Enttabuisierung und eines hemmungslosen Konsumismus nicht versklaven lassen vom Trieb zum Sex und der Sucht nach Genuß und Vergnügen,
– sich gerade in Zeiten, da allein Leistung den Wert des Menschen auszumachen scheint, für die Menschenwürde der Schwachen, »Unproduktiven« und Armen einsetzen.
Frei werden wir von einer
größeren Wirklichkeit her, die nicht nur mich, sondern alle Menschen umfängt und
durchdringt und die wir mit dem vielfach mißbrauchten Namen »Gott« bezeichnen.
Und von ihm her und letztlich allein ihm verpflichtet werden wir frei für die
Menschen. Wir sollen dabei nicht zu Asketen werden; auch Jesus hat
bekanntlich Wein getrunken und an Gastmählern teilgenommen. Aber auch nicht nur
egoistisch unsere eigenen Interessen pflegen und Bedürfnisse befriedigen.
Vielmehr gilt es, im Alltag, im Blick auf das Gottesreich nach Gottes Willen zu
leben versuchen und das Wohl des Nächsten, der uns
gerade braucht, im Auge
behalten: ihn nicht beherrschen wollen, sondern ihm, soviel wir eben können, zu
dienen versuchen. Güte praktizieren und Verzeihen. Nicht nur, wie es ein
Weltethos verlangt, das Einhalten von elementaren Pflichten der Menschlichkeit,
nicht morden, lügen, stehlen, Sexualität mißbrauchen. Sondern, wozu uns die
Bergpredigt einlädt, statt nur die pflichtmäßige »eine Meile« zu gehen,
gegegbenenfalls »zwei Meilen«: ein unprätentiöses Engagement für den
Mitmenschen. Eine Liebe, die auch den Gegner respektiert und den Feind nicht
liquidiert.
Sie verstehen, liebe Brüder
und Schwestern, eine erfreuliche, befreiende Botschaft der Gewaltlosigkeit, der
Barmherzigkeit und des Friedens. Eine Botschaft der Freude. Eine Botschaft, die
nicht moralische Lasten auf die Schultern der Menschen legt, die sie nicht
tragen können, die vielmehr gerade denen Erquickung verheißt, die sowieso schon
»mühselig und beladen« sind. Eine Botschaft, die zusammenführt und nicht
spaltet. Ich frage: Wäre Jesus nicht bestürzt, wenn er hierher käme und
feststellte, daß die Kirchen, die sich allesamt auf ihn berufen, wegen ihren
selbstfabrizierten Dogmen und Machtstrukturen einander von seinem Gedächtnismahl
ausschließen?
Sich als Herrinnen über das Abendmahl aufführen, anstatt ihn, den
Herrn, allein als Gastgeber und Gabe ernst zu nehmen?
Natürlich wissen wir sehr wohl, daß Jesu befreiende Botschaft Konflikte zur Folge haben kann. Es stärkt – und manchmal tröstet es uns auch – zu wissen, daß auch der, auf den wir uns berufen, aufgrund seiner Botschaft und seiner Praxis in die Konfrontation geriet – mit dem religiöspolitischen Establishment seiner Zeit. Zu radikal seine Kritik an der überkommenen Religiosität und an der Machtausübung der Herrschenden. Zu liberal sein Umgang mit dem Religionsgesetz, mit Sabbat, Reinheits-und Speisevorschriften. Zu skandalös seine Solidarisierung mit Armen, Armseligen, »armen Teufeln«: Ihn erbarmt nicht des Hohepriesters, sondern des Volkes. Zu viel Nachsicht zeigt er zum Ärger der Frommen mit Gesetzesbrechern, den »Sündern«. Nicht ein neues Gesetz verkündet er, sondern die Liebe als Erfüllung des Gesetzes. Die Chance für den Einzelfall: Vergeben ohne Ende, Verzicht ohne Gegenleistung, Dienst ohne Rangordnung. Darauf zielen seine Parabeln und seine Praxis.
Sein Schicksal ist
uns bekannt: Seine Protestaktion gegen den Tempelbetrieb, dessen Hierarchie und
Nutznießer, war wohl die entscheidende Provokation, die schließlich zu seiner
Verhaftung und Verurteilung führte. Der Nazarener wurde von der römischen
Autorität verurteilt als politischer Revolutionär, der er nicht war. So starb er
als junger Mann von gut 30 Jahren, verraten und verleugnet von seinen Schülern
und Anhängern. Verspottet und verhöhnt von seinen Gegnern. Verlassen von Gott
und den Menschen.
Seither ist das Kreuz
das Erkennungszeichen der Christen. Und es ist das Kreuz, das es
mir und
Ihnen ermöglicht, auch das oft schwer erträgliche Negative, Leid, Schuld,
Sinnlosigkeit und Tod zu bewältigen. Zur Überzeugung von Christen gehörte von
Anfang an: Dieser Jesus Christus ist nicht in ein Nichts, sondern in die
wirklichste Wirklichkeit, in Gott selbst hinein gestorben. Und man begann
die Person des Meisters aus Nazaret nun anders zu sehen und anders zu deuten.
Seither ist und bleibt er selber die lebendige Verkörperung seiner Sache:
die Sache des Reiches Gottes. Auf ihn und seinen Weg darf man sich einlassen.
Von seinem Geist, der Gottes Geist ist, kann man sich ergreifen lassen. Das gibt
und Kraft, Hoffnung, Freude.
Warum also soll man Christ
sein? Für mich persönlich habe ich die Antwort einmal auf die knappe Formel
gebracht,
die
vielen eingeleuchtet hat:
In der Nachfolge Jesu Christi
kann der Mensch in der Welt von heute
wahrhaft menschlich leben, handeln, leiden und sterben:
In Glück und Unglück, Leben und Tod
gehalten von Gott und hilfreich den Menschen.
Fotos: Heribert Schöllhorn und Tobias Portella
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