11.12.2008 - Frankfurter Rundschau (Dokumentation)
Ökumenischer Kirchentag 2010: Ein Kamel, das durch ein Nadelöhr geht
Armes reiches Land: "Tiefe Risse gehen durch unser Land", beklagten die Kirchen in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort von 1997. Seither ist dieses Land viel reicher geworden - aber die Risse in der Gesellschaft noch viel tiefer. Millionen Kinder wachsen in Armut und ohne Chancen auf. Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erhalten Billiglöhne. In Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Universitäten entscheidet immer öfter der Geldbeutel über die Lebenschancen. Sinkende Einkommen setzen vor allem Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern unter Druck. Im Land des Exportweltmeisters verfällt der Wert der Erwerbsarbeit dramatisch. Geringfügige Beschäftigung, zumeist von Frauen erbracht, schafft keine soziale Sicherheit. (…) Umgekehrt verabschieden sich viele Reiche von der Gesellschaft. Sie vermehren ihr Vermögen, ohne viel zu einem gerechten Gemeinwesen beizutragen.
Die Verantwortung der Politik: Diese soziale Zerrüttung ist kein Naturereignis. Sie ist maßgeblich politisch verschuldet. Seit mehr als zwei Jahrzehnten folgt die deutsche Politik wirtschaftsliberalen Parolen. Sie hat die Unternehmen von Steuern und Abgaben entlastet, den Arbeitsmarkt liberalisiert und viele staatliche Dienste privatisiert - bis hin zur Altersvorsorge und zum Gesundheitssystem. Diese Politik setzt die Menschen der wirtschaftlichen Konkurrenz ungeschützt aus. (…)
Weltweit läuft die gleiche Entwicklung. Seit den 1980er Jahren hat die Politik den Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital dem freien Markt überlassen. Gerade die armen Länder wurden gezwungen, unkontrollierte Auslandsinvestitionen und subventionierte Agrarprodukte ins Land zu lassen, soziale Abgaben zu senken und ihre sozialen Dienste zu privatisieren. Jetzt beherrschen globale Konzerne und Finanzinvestoren die Welt. Zugleich sind die sozialen Gegensätze noch größer geworden: in den reichen Industrieländern, zwischen Wohlstandsländern und vielen Ländern des Südens und auch in den Länden des Südens und Ostens. (…)
So stößt das herrschende Wachstumssystem an die Grenzen des Planeten: ökologisch und sozial. (…) Ein simples "Weiter so" auf dem Weg der Globalisierung ist keine Lösung. (…) Was ansteht, ist nicht weniger als eine soziale und ökologische Revolution; ein Neubeginn, der uns ein gerechtes und soziales Leben erst ermöglicht.
Das Kamel und das Nadelöhr: Zu diesen Entwicklungen können und wollen wir als Christinnen und Christen nicht schweigen. In einer Zeit, in der die Schöpfung bedroht ist und in der Armut wächst wie privater Reichtum, brauchen wir eine Ökonomie, die sich an den ethischen Leitbildern der Bibel ausrichtet: Gerechtigkeit, Teilen, Bewahrung der Schöpfung - denn es ist genug für alle da.
"Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt" (Markus 10, 25). So radikal formuliert die Bibel ihre Kritik an den Reichen. Damit wird der Reichtum nicht einfach verteufelt. Es wird klar unterschieden: Reichtum, der zum Wohlstand aller beiträgt und mit den Armen geteilt wird, ist ein Segen. Reichtum, der nicht mit den Armen geteilt wird oder durch Beugung des Rechts und durch unfairen Handel erzielt wurde, ist ein Fluch.
So ist das Kamel für uns das Symbol für eine gerechte Umverteilung von Reichtum zugunsten der Armen. Wir leben nicht nur in einem reichen Land, sondern in einer reichen Welt. Eine Welt, in der das Teilen des Reichtums zur Grundlage des Überlebens wird, kennt sicherlich auch Kamele, die durch Nadelöhre gehen. So bedeutet uns das Kamel nicht nur ein Zeichen der Mahnung. Für uns ist es auch ein Hoffnungssymbol für ein Leben aus der Erinnerung an Gleichheit und Teilen (Lukas 4, 18; Lukas 19, 8; Apostelgeschichte 4, 35) und der biblischen Vision eines Lebens aus der Hoffnung auf das Festmahl der Befreiten (Offenbarung 21). (…) Das Engagement für eine Welt des Teilens und für eine Wirtschaftsweise, die die Schöpfung bewahrt, ist Verpflichtung für jeden von uns.
Doch so notwendig und wertvoll das Engagement der Einzelnen ist - es kann globale Probleme alleine nicht lösen. Dazu braucht es politisches Engagement für Regeln, Anreize und Gesetze, die alle gleichermaßen binden.
Von den Kirchen erwarten wir beides: das Engagement in den Gemeinden und den Mut zu prophetischer Provokation. Wer sonst soll das gerechte Teilen, den fairen Umgang mit ihren Beschäftigten und den bewahrenden Umgang mit den Ressourcen vorleben, wenn nicht die Kirchen, die diese Ziele predigen? Wer sonst könnte die prophetische Kraft haben, um jene unbequemen Fragen über eine gerechte Zukunft für alle Menschen an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft zu stellen, wenn nicht die Kirchen?
Die große Chance - der Ökumenische Kirchentag in München 2010. Jetzt gilt es, die unbequemen Fragen zum Thema zu stellen, die von breiten Kreisen in Politik und Gesellschaft gerne ausgespart werden: jene nach einer gerechten Verteilung des Reichtums, nach einer gerechten Teilhabe aller an wirtschaftlicher und politische Macht und nach einem Wirtschaftssystem jenseits des unbegrenzten Wachstums. Hier gilt es, die Politikerinnen und Politiker zur Auseinandersetzung über grundsätzliche Fragen zu bewegen, statt sie kurz einfliegen, reden und Beifall abholen zu lassen. Katholiken- und Kirchentage waren immer ein Forum der breiten Debatte und Kristallisationspunkte sozialer Bewegungen. In den vergangenen Jahren wurden sie jedoch vermehrt zu Showbühnen, auf denen kontroverse Positionen die Ausnahme blieben.
Wir wünschen uns einen Ökumenischen Kirchentag, auf dem klare Forderungen für mehr Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich und für die Bewahrung der Schöpfung offen diskutiert werden. (…) Krisen eröffnen auch Chancen. Aber nur dann, wenn mutig und ohne Tabus über neue Wege und Strategien diskutiert wird. Wir wollen, dass unsere Kirchen dabei vorangehen. Deshalb stellen wir Fragen an unsere Gesellschaft, und auch an unsere Kirchen als Institution. In die Diskussionen auf dem Kirchentag wollen wir gemeinsam mit folgenden zentralen Forderungen eintreten:
1. Soziale Sicherheit für alle: Die sozialen Sicherungssysteme müssen allen Menschen ein Leben in Würde mit und ohne Erwerbsarbeit ermöglichen: garantierte Mindestlöhne, mehr Kindergeld und eine armutsfeste Grundsicherung sind wichtige Grundelemente, um Armut in jedem Alter und in jeder Lebenssituation zu verhindern. Gesundheit, gute Ernährung und menschenwürdige Pflege sind unteilbare Rechte, zu denen jeder und jede gleichen Zugang haben muss, unabhängig von Geldbeutel und Bildung.
2. Fair beteiligen: Alle Menschen müssen die Chance erhalten, sich in dieser Gesellschaft zu verwirklichen und an ihren Entscheidungen und an ihrem Reichtum teilzuhaben. Dies erfordert ein Bildungssystem, das alle Schülerinnen und Schüler möglichst frühzeitig fördert und nicht auf Auslese und Elitebildung setzt. Im Arbeitsleben gilt es, neue Formen des Teilens von Arbeit zu entwickeln. (…)
3. Fair teilen: Soziale Sicherheit und gleiche Lebenschancen brauchen mehr Investitionen in den Sozialstaat und in öffentliche Einrichtungen. Das können wir nur finanzieren, wenn die, die höhere Lasten tragen können, auch verbindlich einen höheren Beitrag leisten. (…) Eigentum muss wieder sozialpflichtig werden, wie es das Grundgesetz fordert.
4. Die Globalisierung friedlich, sozial und ökologisch steuern: Der Weltmarkt kann erst gerecht werden, wenn die reichen Länder ihre Privilegien in der Welthandelsorganisation, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds aufgeben. Die Exportsubventionen müssen gestrichen werden und die armen Länder ihre Märkte vor Billigimporten schützen können. Transnationale Konzerne müssen verbindliche soziale und ökologische Mindeststandards einhalten. Finanzmärkte brauchen Regulierung und Kontrolle: durch die Schließung von Steueroasen, durch eine Finanzumsatzsteuer, durch eine Risikohaftung für Spekulanten. (…)
5. Ökologisch wirtschaften und das Klima schützen: Eine ökologische Wirtschaftsweise, die das Klima schützt, erfordert mehr als Energiesparlampen und Absichtserklärungen zur Einsparung von Treibhausgasen. Das fossile und atomare Industriesystem muss konsequent in eine energieeffiziente solare Dienstleistungswirtschaft umgebaut, die Energieversorgung der reichen Länder bis 2050 vollständig auf erneuerbare Energieträger umgestellt werden. Die Unternehmen sind dann Teil einer Kreislaufwirtschaft, die regionale Produktion hat Vorrang vor globaler Produktion, öffentlicher Verkehr vor Individualverkehr, ökologische Landwirtschaft vor konventioneller Landwirtschaft. Dieser Wandel wird unseren Wirtschafts- und Lebensstil international verträglich machen und gute Arbeit für Millionen schaffen. (…)
Uns allen ist klar: Der Ökumenische Kirchentag braucht Bewegung. Kirchen- und Katholikentage waren Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Diskussion zur Ächtung von Massenvernichtungswaffen, zur Überwindung der Apartheid und zur Entschuldung der Entwicklungsländer. Wir wollen gemeinsam auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010 soziale Bewegung für unsere Forderungen entfachen.
Die Zeit ist reif: Fair teilen statt sozial spalten!
Die Autoren
Der Aufruf zum Ökumenischen Kirchentag 2010 des "Netzwerks Ökumenischer Kirchentag" wurde von mehr als 500 Einzelpersonen und 80 Organisationen und Einrichtungen unterzeichnet. Zu ihnen gehören u. a.: Bischöfliches Hilfswerk Misereor, Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Evangelische Frauen in Deutschland e. V., Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands, Katholische Friedensbewegung pax christi (Deutsche Sektion), KirchenVolks-Bewegung Wir sind Kirche, Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA), KLJB Bundesverband, Leserinitiative Publik e. V., Ökumenische Initiative Eine Welt e. V., Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik, Reformierter Bund, Weltladen-Dachverband, Weltnotwerk e. V.
Die komplette Fassung des Aufrufs ist im Internet zu finden unter: www.oekt-netz.de
Zuletzt geändert am 18.12.2008