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Dietmar Mieth: Plädoyer für eine zukunftsträchtige Moral



Prof. DDr. Dietmar Mieth (Prof. für Theologische Ethik, Tübingen) auf der 7. Bundesversammlung "Kirche - Macht - Ethik" vom 24. bis 26. März 2000 in Köln

Einführung Dr. Dieter Appel:

Jahrhunderte war die Kirche unangefochtene moralische Instanz, an der das Kirchenvolk sein Handeln ausgerichtet hat. In den letzten Jahrzehnten allerdings ist für viele Mitchristen diese Autorität ins Wanken geraten. "Kirche - Macht - Ethik", mit oder ohne Bindestrich geschrieben: das Thema unserer Bundesversammlung löst in der Verknüpfung dieser drei Begriffe bei mir ein ungutes Gefühl aus. Ich meine, es ist wichtig, hier und heute einmal genau hinzuschauen: Übt Kirche als Lehramt und als Kirchenleitung nicht gleichzeitig Macht aus, wenn sie meint, vorgeben zu dürfen bis in den persönlichen Bereich hinein, was das Kirchenvolk zu tun und zu lassen hat? Was soll das Kirchenvolk davon halten, wenn es diese Instanz an ihrem eigenen Handeln misst?

Herr Professor Dr. Dietmar Mieth, Sie sind Professor für theologische Ethik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Sie haben sich in den wichtigsten ethischen Fragestellungen als Mitglied der europäischen Ethikkommission mittlerweile einen Namen gemacht. Doch Sie scheinen auch ein eher unbequemer Theologe zu sein. Hier nur zwei Stichworte: Sie sind Mitverfasser und Mitunterzeichner der Kölner Erklärung 1989, die der Kirchenleitung noch heute ein Dorn im Auge ist. Sie setzen sich ein für Theologinnen und Theologen, die von oben den Lehrstuhl verwehrt bekommen, letztes Beispiel: Regina Ammicht-Quinn.

Herr Professor Mieth: Wir haben viele Fragen an Sie wie z.B.:
  • Ist Kirche heute noch glaubwürdig, wenn sie sich zu individual-ethischen oder gesellschaftspolitischen Fragen äußert? Dies besonders nach dem Ausstieg aus der Schwangerschaftskonfliktberatung.
  • Wo sehen Sie Hinweise für eine subtile Machtausübung innerhalb der Kirche, z.B. durch die Verabsolutierung der Sexualmoral?
  • Zielt nicht die Machtausübung gerade auf Frauen?
  • Können Sie Mut machen für eine menschenfreundlichere Sexualmoral?
  • Können Sie Wege weisen zwischen Ideal und Wirklichkeit, die die unterschiedlichsten Lebensentwürfe heute respektieren?

Fragen über Fragen. Herr Professor Mieth, ich würde Ihnen gerne das Wort geben.

Vortrag Prof. Dr. Dietmar Mieth:


Meine Damen und Herren, ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung beginnen, weil eben meine Biographie kurz angeklungen ist. Ich war 1974 der erste Laie, der einen moraltheologischen Lehrstuhl zu bekommen hat, und deswegen kenne ich selbstverständlich die Schwierigkeiten, einen Durchbruch in dieser Art zu erzielen aus eigener Erfahrung sehr genau. Dreimal ist mir das "nihil obstat" verweigert worden, weil ich Laie bin. Es gibt mir eine gewisse, man könnte sagen, Demutsgeschichte - Leidensgeschichte wäre viel zu viel gesagt - , die ich natürlich am eigenen Leib verspüre, mit der ich aber nicht in die Öffentlichkeit gegangen bin.

Es ist schon wahr: es war seit 1989 in einigen Ländern nicht möglich, z.B. in Österreich, als Unterzeichner der Kölner Erklärung einen theologischen Ehrendoktor zu bekommen (Alfons Auer) oder gar einen Ruf an eine theologische Fakultät in Graz oder Wien. Das alles ist viel weniger verhandelt worden, als es das vielleicht verdient hätte. Die Kölner Erklärung war auch für mich ein Einschnitt: Ich habe den größten Teil des Textes verfasst, ich habe die Sammlung der Unterschriften betreut, und es war ein Riesenerfolg, dass über 800 Unterschriften, die Erklärungen aus anderen europäischen Ländern eingeschlossen, zusammen kamen von Theologieprofessorinnen und -professoren. Diese Initiative ist auch für mich ein Einschnitt gewesen, zumal ich danach, auch auf manche Anregung derer hin, die die Moraltheologie in diesen Angelegenheiten für zu schweigsam hielten, Bücher geschrieben habe über "Geburtenregelung" und "Schwangerschaftsabbruch", die gut beachtet worden sind. Damit wollte ich aber auch einen bestimmten kirchlichen Problembereich hinter mir lassen und mich in einem anderen Problembereich stärker zu engagieren, nämlich in der Technologieentwicklung und in den damit verbundenen Fragen der Ethik, insbesondere der so genannten Bioethik - ein Ausdruck, den ich nicht liebe, aber den man wohl kaum mehr vermeiden kann. Und in diesem Zusammenhang bin ich auch Mitglied in der europäischen Ethik-Beratergruppe in Brüssel seit 1994. Hier tauchten noch andere Probleme für mich auf, unter den dort vertretenen zwölf säkularen Aposteln und Apostelinnen sind nicht viele Fach-Ethiker. Aber manche Fach-Ethiker haben selbstverständlich eine völlig andere Position, als ich sie aus meiner Tradition als Christ und als katholischer Moraltheologe habe. Ein Beispiel: Gestern diskutierten wir in Brüssel die Frage, ob in unserer Stellungnahme zur Charta der europäischen Grundrechte, die gerade in vielen Kommissionen verhandelt wird, ob stehen soll: "das Klonen von Individuen ist verboten" oder ob da stehen soll: "Das reproduktive Klonen ist verboten". Sie werden wahrscheinlich gar nicht auf Anhieb verstehen, worum es da geht, aber es geht um etwas ganz Entscheidendes: wenn man sagt, das reproduktive Klonen ist verboten, dann meint man damit, das nicht-reproduktive Klonen, also das Klonen von Embryonen "in vitro" ist erlaubt. So muss man diese trickreiche Sprache verstehen. Wenn man dagegen sagt "Das Klonen von Individuen ist verboten", dann ist das noch offen, dann kann man den Streit noch führen, wer denn ein Individuum ist. Selbstverständlich habe ich mich dafür eingesetzt, dass mindestens als Alternative angeboten wird "das Klonen von Individuen ist verboten". Von anderen Mitgliedern dieser Beratergruppe wurde dies abgelehnt, weil sie für das nicht-reproduktive Klonen, also, wenn auch mit Einschränkungen, für die verbrauchende Embryonenforschung sind. Die zentrale Kommission, die die Grundrechte bearbeitet, bekommt dann beide Textvorlagen. Man könnte ja sagen, hier leiste ich der Kirche einen gewissen Dienst, ich weiß aber nicht, ob die Kirche das wahrnimmt.

Ich will ein anderes Beispiel nennen: die neue Gesetzesvorlage des Bundesjustizministeriums zur Frage der menschlichen Lebensgemeinschaften. Da geht es auch unter anderem um die Lebensgemeinschaften von Schwulen und um lesbische Lebensgemeinschaften. Sie haben vielleicht gehört, dass die Deutsche Bischofskonferenz noch einmal darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie zwar keine Diskriminierung will, aber auch nicht Verunklarung des Alleinvertretungsrechtes für geschlechtliche Lebensgemeinschaften durch die Ehe. Ich denke, dass wir dieses Problem noch zu einem guten Teil vor uns haben. Und wenn man keine Diskriminierung will, wenn man will, dass verbindliche Lebensgemeinschaften, die sich gefunden haben, auch Konsequenzen haben, die von anderen anerkannt werden, dann wird man sicher einen Schritt weiter gehen müssen, als die bisherige Rechtslage in Deutschland das erlaubt.

Was ich dazu sagen wollte, ist nur folgendes: Wenn sich die Kirche in dieser Frage eine Meinung bilden wollte, dann meine ich, kann diese Meinung nicht auf der Bischofskonferenz abgerufen werden, sondern diese Meinung müsste in der Tat geklärt werden an der Basis, es müßten die Erfahrungen, die die Schwulen und Lesben in der Kirche gemacht haben, eingebracht werden, und es müßten Gespräche stattfinden, die schon auf der Gemeindeebene stattgefunden haben. Aber das wird weiterhin schwierig sein. Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren einmal eingeladen war zu einer schwulen Teilgemeinde. Und als ich gefragt wurde, warum ich so weit reisen müsste, um dahin zu gehen. Da hat man mir gesagt, in der Nachbarschaft sind Moraltheologen dazu nicht bereit. Das sind Zustände, die unhaltbar sind, und sie gehören zu einer bestimmten autoritären Tradition, in dem die Kirche Moral gemacht hat.

Nun gut: Moral und Ethik, vielleicht sollten wir sie auseinanderhalten. Die Kirche macht mehr Moral als Ethik. Wenn man Moral als das betrachtet, was Menschen zunächst ohne Nachzudenken für richtig halten. So übt Kirche auch viel mehr Einfluss auf das, was die Menschen ohne nachzudenken für richtig halten, etwa im Parlament - Ich bin überzeugt davon, wenn sich diese Cloning-Frage, von der ich vorhin gesprochen habe, im Europaparlament stellen würde, bekäme ich eine Mehrheit für meine Auffassung, aber nicht in der Expertokratie. Das Problem liegt aber nicht darin, dass die Kirche auch heute schon noch eine Ausstrahlung auf Moral hat. (Wir werden uns noch über die Frage zu unterhalten haben: Ist das gut? Ist das schlecht?) Aber einen Einfluss auf die Ethik hat sie nicht mehr. Ethik, das ist die professionelle Art und Weise, unter unterschiedlichen moralischen Voraussetzungen und Annahmen gemeinsam nach einer prozeduralen Praxis und nach einer Reflexion zu suchen, die konsensfähig genug ist, um Normen für die Gesellschaft aufzustellen. Und dabei geht man automatisch davon aus, dass die Moral aus verschiedenen Kulturen besteht, dass man dennoch miteinander leben muss und dass man dennoch miteinander eine gute Streitkultur entwickeln muss.

Man könnte sagen, die Kirche sitzt am Katzentisch der internationalen Ethik, aber sie präsidiert bei der internationalen Moral. Der Heilige Vater ist immer noch so etwas wie ein globaler Dorfpfarrer, wenn man das Medienecho betrachtet, mit dem seine Reisen begleitet werden. Das ist ein Dilemma, ein interessantes Dilemma, das wir aufarbeiten müssen. Die Moral als das ethische Beispiel in der Kirche wird immer gepriesen, die moralische Reflexion der Kirche wird abgewiesen. Bei den Philosophen gilt: "theologica non leguntur", d.h. theologische Moral wird von vornherein nicht gelesen. Dass die Kirche an den Katzentisch der Ethik geraten ist, liegt natürlich auch daran, dass sie die Moral in ihrer Geschichte durch unkontrollierte Machtausübung verletzt hat. Die Moral durch unkontrollierte Machtausübung verletzen: Ein kleines Beispiel dafür ist die Verweigerung des "nihil obstat" an Frau Ammicht-Quinn, mit dem Argument: "ihr persönlicher Ansatz stimme mit dem Glauben der Kirche nicht überein." Eine solche Phrase ist völllig unpassend, auch rechtlich gesehen denn die Kirche ist daran gebunden, auch die Glaubenskongregation in diesem Fall ist daran gebunden, Gründe anzugeben. Man will ja wissen, wie und warum man zu einem negativen Urteil kommt. Ein Urteilsspruch ohne Begründung und ohne angemessenes Rechtsverfahren ist eigentlich nichts wert, widerspricht dem Menschenrecht. Von daher gesehen kann man sagen: hier ist die Machtausübung rechtlich unkontrolliert. Es ist ja niemand da, der das rechtlich kontrolliert. Es ist immer das letzte willkürliche Wort, das in diesem Zusammenhang gesprochen wird. Dieses letzte willkürliche Wort kommt in der Kirche von denen, die die Macht nicht teilen können. Natürlich hat in der Vergangenheit auch das Kirchenvolk gesündigt z. B. durch Judenprogrome und dergleichen. Aber niemals allein; das war dann die von der Macht her gebildete geschlossene Mentalität: Heidenbekehrung mit dem Schwert, Ketzerverfolgung, getragen von der Heuchelei der Kirche, die gesagt hat, sie verbrennte ja keine Ketzer, weil das dem Staat obliege, die Kreuzzüge, die Hexenideologien, die Kriegstreiberei, die Doppelmoral, die Unterdrückung der Wissenschaft, die Zerstörung der Selbstbestimmung, die Hierarchisierung der Geschlechter, die Instrumentalisierung der Frauen, die Fixierung auf die Macht über die sittliche Lebensführung im Milieukatholizismus und die Aufgipfelung der Lehrautorität bis zur durch Jurisdiktion abgesicherten Willkür. Man kann das alles nur im schnellen Durchgang vortragen, man könnte es ausmalen, das will ich jetzt hier nicht tun. Nur soviel zur Verwandlung von Autorität in Willkür: Als die Kirche ihre weltliche Macht verlor, als die französischen Truppen Rom besetzt haben, 1870, da wurde das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes geboren, in Glaubens- und Sittensachen. Die Römer hätten's gern additiv: Glauben und Sittensachen nebeneinander. Wir hätten als Moraltheologen es gerne konsekutiv: die Sittensachen nur insofern, als sie aus dem Glauben unmittelbar hervorgehen. Und das tun sie nicht. Es ist wirklich kein Wunder, dass in dem Augenblick, an dem die weltliche Macht verschwindet, die geistige Macht alles usupiert. Die Macht über die Seelen anstelle der Zuchtmittel des Staates, auf die die nun Kirche nun teilweise verzichten muss. Das Zuchtmittel des Staates gibt es natürlich heute auch noch, denn wenn man als Professor die Kölner Erklärung unterschrieben hat und kriegt dann keinen Ruf nach Wien, dann kriegt man nicht mehr Gehalt und auch nicht mehr an Ausstattung, trotz aller Leistung, mit anderen Worten: die Kirche spielt mit der staatlichen Bande - also ich meine im Sinne des Eishockey - den Puck gegen die Wand, und dann kommt er wieder zurück als Strafe für den Betroffenen. Das ist auch eine Frage, ob der Staat hier moralisch handelt, wenn er sich bereitwillig darauf einläßt.

Gibt es denn überhaupt so etwas wie Hoffnung, in der Kirche, wie sie sich heute darstellt - angesichts so viel unkontrollierter Machtausübung? Ich brauche nur an die Vielfalt der Basisgemeinden zu denken. Ja, es gibt natürlich Hoffnung in der Kirche, es gibt viele Menschen in der Kirche, die heute noch durch ihren moralischen Anspruch und ihre Vorbildlichkeit wirken. Eben ist einer von ihnen in der Meditation noch einmal erinnert worden: Oscar Romero. Oscar Romero ist eine sehr starke Identifikationsgestalt geworden für viele Christen, weil er ein Mensch war, der diese doppelte Aufgabe aufrecht erhält: einerseits die Aufgabe gegenüber den staatlichen Gewalten angstfrei die entsprechenden Menschenrechtspositionen und die Option für die Armen zu vertreten, und zum anderen natürlich deswegen, weil er sich von der kirchlichen Obrigkeit auch nicht kommandieren ließ wie ein Untertan, und deshalb in die entsprechenden Schwierigkeiten hinein geraten ist. Ich denke, dass ist gerade die Aufgabe exponierter Menschen in der Kirche, dass das Rückgrat nach diesen beiden Seiten aufrecht erhalten bleibt. Aber man braucht nur an Bischof Belo in Osttimor zu denken, um zu sehen, wie sich das weiter fortsetzt. Oder an die Frauen von Nicaragua, und die von Nordirland, die für Versöhnung und Frieden in der Öffentlichkeit eingetreten sind - oft unter Gefahr ihres Lebens und unter der Gefahr von Bomben. Man braucht nur zu denken an die Ausdauer unterdrückten Christentums ganz verschiedener Konfessionen und Denominationen in China, eine Stabilität unter Voraussetzungen, die man sich kaum mehr vorstellen kann. Man braucht nur zu denken an die Solidarität mit den Armen, mit den Schwachen oder - wie es in Neulatein heißt - mit den "vulnerable persons", mit den verletzlichen Personen. Ich finde, das ist ein wunderbarer Begriff in der internationalen Ethik, denn die internationale Ethik ist ja in manchen Punkten so weit nicht entfernt von dem, was wir etwa Option für die Schwachen oder für die Armen nennen würden. Nur die Frage ist freilich, wer sind die verletzlichen Personen? Sofort entsteht der entsprechende Streit!

Manche Änderungen, der Kirche in ihrer offiziellen Sozialverkündigung, stellen einen gewissen Aufbruch dar; einen Aufbruch, wie er von Marie Dominic Chemin damals benannt worden ist: von der kirchlichen Sozialdoktrin zum "Social Teaching", zu einer kirchlichen sozialen Reflexion, die von unten her aufgebaut, sichtbar durch Wirtschaftshirtenbriefe wie in den Vereinigten Staaten und in Kanada, durch Sozialhirtenbriefe wie in Österreich, durch das Sozialwort der Kirchen hier durch die Basisgemeinden, durch die Befreiungspastoral. Über all das kann man gut streiten, aber wenn man von unten anfängt über Konsense zu streiten, dann entsteht eben auch eine Streitkultur über diese Einheitskultur hinaus.

Ich bin weit davon entfernt zu sagen, die Bilanz sei absolut negativ, ich sehe durchaus noch Zeichen der Hoffnung in der Kirche. Die Frage ist nur: von wem gehen die Hoffnungszeichen aus? Sie gehen nicht von denen aus, die die Macht in der Kirche unkollegial usurpieren, sie gehen nicht aus von der Alleinherrschaft der Glaubenskongregation in allen Lehrfragen, sie gehen nicht aus von Josef Ratzinger, dessen Einfluss in der Kirche ja wohl unumstritten ist, wir kommen noch darauf. Aber das Fazit bleibt doch: die Kirche könnte ein wichtiges Forum der Ethik und eine Instanz der Moral sein. Es ist auch in der pluralen Gesellschaft eine gewisse Bereitschaft da, diese Rolle zu akzeptieren, die Kirche vom Katzentisch an den runden Tisch der Ethik zu bitten. Denn keiner bezweifelt, dass Religion Sinn und Motiv der Moral mitbestimmt. Nur kann Küng das besser darstellen als Josef Ratzinger. Wie Religion Sinn und Motive der Moral darstellt, wie Religion auch in Moral zu erfahren ist, auch das ist etwas, was Hans Küng, denke ich, positiv aufgegriffen hat. Denken Sie nur an die Gebote der zweiten Tafel von Sinai. Man kann diese Gebote heute ganz modern formulieren und sagen: Recht zukünftiger Generationen, das Leben bewahren, nicht den Menschen instrumentalisieren, ihn nicht betrügen, ihn nicht ausbeuten. Das sind gute Traditionen. Es sind Traditionen, die sich nicht immer in der Weise behauptet haben, dass man ihre beste Interpretation mit der Kirche verbindet. Aber man wird immerhin sagen müssen, es sind Kriterien der Erinnerung. Es gibt ja auch Theologen in der Kirche, die deutlich machen, wie sehr es die eigentliche Aufgabe der Kirche wäre, Hüterin der Erinnerung zu sein. Hüterin der Erinnerung im Sinne des Gedächtnisses Gottes, der solidarisch ist mit den Leidenden, Hüterin der Erinnerung in der Trauerarbeit, in der Buße, Hüterin der Erinnerung eben im Andenken an das eigene Versagen. Vielleicht sind ja die Bilder wirksamer vom Papst unter dem Kreuz als die Analyse dessen, was er im einzelnen dazu gesagt hat.

Dazu ist Religion mehr als Moral. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Ethik boomt und die Menschen von anderen an ihrer Moral gemessen werden. Die amerikanischen Präsidentenwahlkämpfe sind Moralschlachten und deswegen Schlammschlachten. Die schlechte Moral ist immer die Moral des anderen, die Moral ist in der Politik eine Waffe, mit der man sich gegenseitig die Köpfe einschlägt. Albert Camus hat es schon nach dem Kriege ausgedrückt: Moral heißt, dass jeder jeden beschuldigt und niemand mehr freispricht. Das wird mit einem Blick auf die Presse deutlich, dass niemand mehr frei spricht, jeder jeden beschuldigt. Die Presse dient als Transmissionsriemen dieser wechselseitigen Beschuldigungen. Das Entscheidende aber am Christentum ist es, dass die Binde- und Lösegewalt, die wir in Matthäus 16 finden, spät eingefügt, oder das Behalten und das Nachlassen bei Johannes 23. An diesen Stellen wird im Grunde zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch mehr als Moral ist und dass er mehr ist als die Bilanz, die wir von ihm herstellen können aufgrund seiner moralischen Leistungen. "Religion" sagte Albert Camus damals schon, "sollte eine allgemeine Weißwäscherei sein". Das war selbstverständlich übertrieben, hyperbolisch gemeint, aber, haben Sie je darüber genau nachgedacht, was es heißt, zu "binden" und zu "lösen"? Wenn man an die Macht der Kirche denkt, die man ja oft damit in Verbindung bringt, das heißt doch nichts anderes als diejenigen erstmals zu binden, die in dieser Welt die Täter sind, sie in ihrer Indifferenz aufzusuchen, anzuklagen und dann zu binden. Und "lösen", das heißt doch im wesentlichen, dass man die Skrupulanten aufsucht, die sich überall herausgebildet haben - oft auch aufgrund kirchlich-moralischer Sozialisation - und dass man diesen Opfern sagt, dass der Mensch mehr ist als Moral. Aber ich glaube nicht, und das ist ja ein Problem mit der Macht der Kirche, dass das Wort vom Binden und Lösen, von den Machtträgern in der Kirche tatsächlich so verstanden wird. Die Hauptforderung an eine Kirche für eine zukünftige, zukunftsfähige Moral wäre, die Moral am Menschen zu messen. Gerade aus dieser religiösen Botschaft des Christentums in Sachen der Moral - dass der Mensch nämlich mehr als Moral ist, dass er das Subjekt der Erlösung ist - dass es nicht nur der größte Kraft des Menschen ist, Gottes zu bedürfen, wie Tillich es einmal ausgedrückt hat, sondern umgekehrt auch, dass Gott gesagt hat, dass er des Menschen bedarf und sich in dieser Menschlichkeit entscheidend ausgedrückt hat als der Gott Jesu Christi. - Und gerade darum liegt die Hauptanforderung an die Kirche für eine zukunftsfähige Moral, sich am Menschen zu messen, sich an der Menschlichkeit des Menschen zu messen. Der Mensch darf kein Opfer der Moral werden.

Aber, meine Damen und Herren, das ist ja ideologischer Streit durch die gesamten moral-theologischen Veröffentlichungen hindurch. Es gibt auch heute noch moraltheologische Veröffentlichungen, ich nenne Ihnen jetzt keine Namen, in denen steht, dass Gott nicht zum Opfer des Menschen werden darf, dass man Gott nicht im Interesse des Menschen instrumentalisieren darf - und in demselben Beitrag wird vergessen, dass es meistens umgekehrt geschieht, dass wir umgekehrt eine negative Erinnerung aufzuarbeiten haben, dass z. B. das Kreuz falsch dargestellt worden ist, als Zeichen des Verbleibens in der Knechtschaft. Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach - das wurde als Annahme von Unterdrückungen formuliert. Als hieße nicht Kreuztragen an einer Solidarität teilnehmen, die das Joch von den Schultern der Opfer nimmt.

Da kommt man nicht so ganz heraus, aus dieser Dialektik. Aber Sie können sicher sein, dass FAZ-Autoren wie R. Spaemann und J. Ratzinger dieser irdischen Dialektik ganz nach oben entschwunden sind. Die Wahrheit gilt, aber als wolkige Konstruktion. Sie hat mit der Institution auf Erden nichts zu tun, obwohl diese sie ja repräsentieren soll. Und dazu gehört dann plötzlich die Brutalität gegenüber der apodiktisch diagnostizierten Abweichung - wie es von einem Bischof hieß: wolkig verschwärmt, wurde er ein scharfer Hund.

Kirchenutilitarismus bedeutet, dass man auf der einen Seite den Utilitarismus bekämpft und auf der anderen Seite sagt: im Namen der Einheit der Kirche und im Namen ihres Anspruchs darf gelogen werden. Dies ist ein Zusammenhang, den ich schon mehrfach zu entlarven versucht habe. Es ist einfach nur noch möglich, in diesen Punkten polemisch zu reden, polemisch heißt hier nichts Anderes, als dass die Verzerrung zur Verständlichkeit entzerrt wird.

Wir haben einen bürokratischen Zentralismus in der Kath. Kirche. Auch in der Schwangerschaftskonfliktberastung zu einer widerliche Missachtung der Kollegialität der Bischöfe führte. Aber dies alles geschieht im Namen der Priorität der Machterhaltung; die Zentrale steht unter der Angst und dem Zwang, diese pluralistische Kirche kompakt zusammenzuhalten. Aber, meine Damen und Herren, das ist ja nicht einmal in der Kölner Diözese möglich, oder können Sie es sich vorstellen, dass der Kardinal von Köln alles kontrollieren kann in dieser riesigen Diözese? Ich kann mir das nicht vorstellen. Gelassenheit kann man bei Jesus von Nazareth nachlesen: "Lasset das Unkraut wachsen mit dem Weizen". Ich hab einmal ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Mit dem Unkraut wächst der Weizen". Aber schon in den Enzykliken früherer Jahrhunderte steht, man müsse das Unkraut rausreißen. Es gibt also neue Anforderungen an die Kirche. Wenn sie eine Moral mit menschlichem Antlitz verkünden will. Und da die Kirche immer noch durch viele Seelen hindurchgeht, kann man nur wünschen, dass sie dieses menschliche Antlitz selber trägt, um von daher die zukünftige Moral zu beeinflussen. Diese Moral steht nämlich unter einer Reihe von besonderen Voraussetzungen. Es ist ja kein Wunder heute, wenn die Ethik boomt. Es gibt so viele neue Herausforderungen, denen wir für die zukünftige Gesellschaft gewachsen sein müßten. Aber weil wir es nicht sind, fragen wir nach der Ethik. Manchmal wird man von Kollegen in Brüssel gefragt: Ist es nicht so, dass die Ethik heute die neue Religiosität ist? Überall in Europa wrden Ethik-Gruppen eingerichtet -, auch in früheren Ostblock bis in die baltische Länder. Die Frage nach der Ethik hat Zuspruch. Warum? Weil die Menschen so verunsichert sind. Man ist z. B. durch die Umweltkatastrophen verunsichert. Gut dass es dazu Ansätze in der katholischen und evanngelischen Kirche gibt. Umwelt-Ethik heißt aber auch, dass es Prioritäten in der Energiewirtschaft geben muß. An solchen Fragen hält sich die Kirche natürlich heraus. Wo die Fakten strittig sind, da muss gewiß eine gewisse Zurückhaltung geübt werden. Die Fragen des Technologiewandels, die ich schon genannt habe, beziehen sich nicht nur auf die Bio-Medizin, sondern auch auf die der Informationstechnologien. Natürlich gibt es Moraltheologen, die sich mit der Internet-Moral beschäftigen, aber ein Forum in der Kirche gibt es dafür nicht. J. B. Metz fragt, ob es nicht besser sei, keine Messen im Fernsehen zu übertragen, und die Kirche denkt an Privatsender. Man kann sagen, die Kirche ist technisch stets fortschrittlich: diese ganze Computerisierung der Büros und der technischen Verwaltungsabläufe . Die Modernisierung der Kirche auf dem technischen Niveau ist überhaupt kein Problem. Wenn die Expertokratie miteinander redet, sind die Bischöfe mit dabei, und dann werden sie durch die Faszination zu Unterschriften verlockt. Es gibt so eine Art "Gallilei-Furcht" auf der oberen Etage, das möchte man nicht wieder. Aber die Menschenwürde bleibt sich doch gleich, egal ob wir ein Sonnensystem haben oder die Erde eine Scheibe ist. Die Kirche muss nicht die Angst haben, das zu sagen, was gebührt. Technologiewandel führt innerhalb der Wirtschaft zu Prozessen, der Globalisierung, der digitalen Kapitalverwertungsprozesse, des joined venture - in jeder Predigt, die sich mit aktuellen Worten schmückt, taucht so etwas auf. Aber was fangen wir damit an, wenn es dafür kein Forum mit öffentlicher Streitkultur in der Kirche gibt? Oder denken wir an die politische Moral! Welches Profil hat die kath. Kirche im Zusammenhang mit der Spendenaffäre entwickelt? Ein sehr rundes Profil, aber es gibt so etwas wie ein Abtauchen, wenn es um die CDU geht.

Eine große Herausforderung unter den heutigen ethischen Fragen kann man unter Lebensberatung zusammenfassen. Wie wichtig heute Beratung ist, sieht man deutlich an dem Zusammenbruch der Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Menschen wollen selbst entscheiden, aber sie wollen auch beraten werden. D. h., die Lebensberatung wird unter der Voraussetzung der Selbstbestimmung eingefordert, und wenn die Kirche in all den Feldern der nicht-direktiven Beratung präsent ist, dann wird das auch akzeptiert.

Denken wir an die vielen Initiativen in den Bildungshäusern und in den Bildungswerken, da geschieht vieles bereits von unten her; das wird nur "oben" ungern wahrgenommen; wenn man es wahrnehmen würde, müsste es man ja unter Umständen verbieten, weil es nicht direktiv genug ist. Ich erinnere mich an einen Vorwurf, der mir einmal gemacht wurde, in einer Schrift in den 70ern, - die große Illustrierte "Ja," eine Million Auflage, ein Heft über die Trauung und die Ehe. Mein einführender Text wurde von einer Kommission der Deutschen Bischofskonferenz geändert: er war ungenügend im Verurteilen. Mein Protest dagegen hat viel Kraft gehortet; ich habe das nicht unterschrieben, bevor es nicht geändert war. Der Umgang mit Rechten war vor 25 Jahren noch weniger entwickelt. In Fragen der Humangenetik brauchen wir eine neue Beraterstruktur. Es ist ein neues Ziel, Menschen zu helfen in ihren persönlichen Lebensplänen. Psychologie ist "out"; der Trend ist die philosophische Lebensberatung, denn die Menschen wollen nicht wissen, was sie im Leben versäumt haben, sondern sie wollen wissen, wie sie das umsetzen können und was sie selber wollen. Sie können ja mal eine Schulklasse fragen, was jeder einzelne will, z. B. Sex, Liebesromantik oder Familiengründung-, da werden Sie zu relativ restriktiven Aussagen gelangen, die sind gar nicht so liberal. Man müsste mehr fragen und von unten würden schon die richtigen Regulierungen heranwachsen. Kirchliche Lebensberatung ist nicht Verodnung. Kirchliche Lebensberatung ist Dienst.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Eine Macht, die wirklich Dienst wäre! In der Kirchensprache hört man: Niemand hat Macht, alle dienen. Bischof Kasper sieht im Priester den "Dienst an den Diensten". Der Papst gilt als "servus servorum" (Diener der Diener), das ist eine funktionale Beschreibung, aber es ist auch eine ziemliche Beanspruchung und die Hypostasierung einer Aufgabe, bei der man eigentlich nur versagen kann. Die Rede vom Dienst ist oft nur ein Verbergen von Macht. Worauf es ankäme, ist, dass Macht wirklich Dienst wird und Dienst nicht bloß ein Euphemismus (eine Beschönigung) für Machtansprüche darstellt. Ich sagte ja schon, es geht darum die Indifferenten zu binden.und die Schwachen von ihrem Skrupulantentun zu befreien. Die prophetische Anklage gegen der zerstörerischen Kräfte der Gleichgültigkeit darf nicht fehlen. Das Falsche soll verurteilt werden, aber Vergebung soll immer zusprachebereit sein, und auf keinen Fall darf die Würde des Sünders oder der Sünderin verletzt werden. Eine Ethik nicht-direktiver Beratung braucht auch Normen, auch in der Sexualmoral. Aber diese Normen müssen Raum lassen für die Verantwortung einer moralischen Identität und einer persönlichen Lebensführung. Zu einer solchen Ethik gehört als Adressat auch die Familie, der "Patient" Familie. Eltern lernen an den Kindern die Erziehung, nicht Eltern erziehen ihre Kinder, sondern Kinder erziehen durch ihre Bedürfnisse und Orientierungssuche ihre Eltern. Kinder zeigen nämlich, was sie brauchen, vor allem: Rückhalt. Selbstbestimmung, darauf ist zu bestehen, heißt immer auch Selbstverpflichtung. Die Angst vor indivdidualistischer Willkür auf diesem Gebiet ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber die Angst vor der Instrumentalilsierung von Menschen etwa durch die Medien, durch das Internet usw. ist viel mehr berechtigt. Die Kirche soll auf der Seite der Diskriminierten und Marginalisierten stehen; eine Kirche, die das geknickte Rohr aufrichtet im Namen Gottes, die die Subsidiarität und Kollegialität, nicht nur der Bischöfe, auch tatsächlich an ihren Taten erkennen lässt; eine Kirche, die dafür sorgt, dass sich in ihr unterschiedliche Erfahrungen herausbilden können, aus denen sie Nutzen ziehen kann und die nicht versucht, alle Erfahrungen irgendwie gleichzuschalten. Die Kirche kann einer zukunftsfähigen Moral helfen, wenn sie selber ein Forum des Lebens ist. Und damit würde die Kirche auch Anschluss gewinnen an den Boom der Ethik, den wir heute erfahren. Und der Beitrag zu einer zukunftsfähigen Moral ist dann auch ein Weg in eine zukunftsfähige Kirche.

Zuletzt geändert am 19­.11.2007