Ende Dezember 2005 - GONG
Gottes Wort und unser Beitrag
Nach der Papstwahl war es besonders aufregend", erzählt Elisabeth Raschke. „Da musste ich unzählige Interviews geben." Journalisten aus der ganzen Welt wollten von der 23jährigen Münchnerin wissen, was sie von dem neuen Papst aus Bayern hält. Das Medieninteresse war nicht zufällig: Elisabeth gehört wie ihr 27-jähriger Bruder Tobias zur „Wir sind Kirche"-Jugend. Einer Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche. Deren wichtigs-te Forderung: mehr Gleichberechtigung, weniger Hierarchie in der katholischen Kirche!
Neue Sehnsucht nach Glauben. Schon mit 13 hat Elisabeth Unterschriften für das Kirchenvolksbegehren ge-sammelt. Eine Aktion, mit der Christian Weisner- einer der Gründer von „Wir sind Kirche" - schon vor zehn Jah-ren eine Demokratisierung in der katholischen Kirche anstoßen wollte. Das Kirchenvolksbegehren war ein voller Erfolg: Mehr als 1,8 Millionen Frauen und Männer unterschrieben damals.
Mittlerweile haben die Raschkes, die aus einer gläubigen, aber kirchenkritischen Familie stammen, Freunde in aller Welt. Die „Wir sind Kirche"-Jugend, eine Untergruppe von „Wir sind Kirche", ist weltweit mit anderen jungen katholischen Reformern vernetzt. Etwa mit der US-Bewegung Catholics for a Free Choice. Aber auch zu Gruppen in Bolivien, Peru und Chile hat die Studentin Kontakt. Man trifft sich überwiegend im Internet. „Wir sind Kirche" arbeitet mit Glaubensgruppen in über 30 Ländern zusammen. Zur Papstwahl und zum Weltjugendtag in Köln machte die Reformbewegung weltweit auf sich aufmerksam.
Die Sehnsucht nach Glauben, Spiritualität und Kirche nimmt bei Jugendlichen zu. Diesen Trend haben schon die Fernsehbilder aus Rom zum Tod des Papstes und zur anschließenden Neuwahl gezeigt. Überrascht re
gistrierte die Öffentlichkeit die vielen jungen Gesichter auf dem Petersplatz. Beim Weltjugendtag wurden mehr als eine Million Pilger geschätzt, sie kamen aus 188 Ländern zu einer großen religiösen Party. In einer Welt, in der weder Arbeit noch Familie sicher sind, in der alle Werte verhandelbar scheinen, suchen viele Menschen wieder nach einer übergeordneten Instanz.
„Gott ist tot", sang Nina Hagen vor 20 Jahren. Heute ist dieses Motto out. Glaubensbücher wie etwa „Schluss mit lustig" von Peter Hahne halten sich seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Mit über 500 000 Exemplaren ist es das bestverkaufte Sachbuch 2005. Auch TV-Macher haben den Trend erkannt, wie etwa Bibel-TV-Gründer Hen-ning Röhl. Und die Zahl der katholischen Kirchenaustritte ist seit den 90erJahren deutlich zurückgegangen: von fast 200 000 im Jahr 1992 auf die Hälfte im Jahr 2004.
Frauen in das Priesteramt. Ohne den Einsatz von „Wir sind Kirche" seit zehn Jahren wären sicher schon viel mehr, vor allem junge Menschen, aus der Kirche ausgetreten, meint Tobias Raschke: „Wir vertreten eine Mehr-heitsmeinung." Dieser Ansicht ist auch der 21 jährige Student Cajus Nitsch aus Mannheim: „Das Wichtigste ist, dass man die Kirche wieder fürjunge Leute öffnet, viele wenden sich wegen des starren Glaubens ab. Die Kirche sollte Dinge erlauben, die in unserer Gesellschaft längst normal sind."
Auf dem Weltjugendtag etwa haben die jungen Gläubigen Karten verteilt, die Aufsehen erregten: Good Catholics Use Condoms (Gute Katholiken benutzen Kondome) stand drauf. „Angesichts der Ansteckungsgefahr von Aids darf die Kirche nicht mehr dagegen sein." Abstinenz von Sex sei erstrebenswert, „aber alle, die das nicht können, müssen sich doch schützen dürfen", erklärt Elisabeth eines der wichtigsten Anliegen der jungen Gläubi-gen.
Neben einer positiven Bewertung der Sexualität, auch der von Homosexuellen, setzt sich „Wir sind Kirche" für Gleichberechtigung der Frauen in allen kirchlichen Ämtern ein. „Warum sollten Frauen, die ehrenamtlich das meiste leisten, nicht auch Priester werden?" Man ist gegen das Pflichtzö
libat und für den Aufbau einer demokratischen Kirche, in der weniger Hierarchie herrschen solle. Wichtige Forderung: Katholischen Laien müssen mehr Rechte eingeräumt werden.
Die jungen Katholiken scheuen auch
keine heißen Eisen: „Abtreibung ist ein schwieriges Thema", weiß Elisabeth. „Aber es ist nicht gut, dass sich die katholische Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung entfernt. Da müsste sie den Frauen helfen." Das gebiete schlicht die Nächstenliebe. Und auch zu dem Thema „Sex vor der Ehe" hat die junge Frau eine unverkrampfte Meinung: „Das muss eine freie Entscheidung sein. Jeder träumt davon, den Partner fürs Leben zu finden, aber das klappt eben nicht bei jedem auf Anhieb." Statt harter Gebote plädiert Elisabeth dafür, verantwortungsvoll mit Partnerschaft umzugehen.
Kritische Stimmen. Die KirchenOberen beäugen das Engagement kritisch: „Das ist eine Gruppierung, die sich sehr kirchenkritisch, ganz am Rande des kirchlichen Lebens bewegt", sagt Winfried Röhmel, Leiter der Pres-sestelle des Erzbischöflichen Ordinariates Freising und München und Sprecher von Kardinal Karl Friedrich Wet-ter. „Die wollen eine andere Kirche als unsere." Er hält den Einfluss der Modernisierer für gering: „Manchmal kriegen die nicht einmal so viel Personen auf die Füße, wie man braucht, um ein Transparent zu tragen."
Weil „Wir sind Kirche" kein Verein ist, sondern eine Bewegung, gibt es keine Mitgliedszahlen. Doch allein das große Medien-Interesse an der kritischen Be
wegung zum Weltjugendtag beweist, dass man den Reformern nicht einfach den Stempel „bedeutungslos" aufdrücken kann. „Umfragen machen immer wieder deutlich, dass,Wir sind Kirche` die Stimme des Kirchenvol-kes vertritt", entgegnet Christian Weisner. Vor allem die Jugend, davon sind die „Wir sind Kirche"-Anhänger überzeugt, wird die Modernisierung der katholischen Kirche vorantreiben. Eva Meschede
Tipps zum Thema
KirchenVoIksBewegung „Wir sind Kirche": Telefon 0 8131/26 02 50; Im Internet unter: www.wir-sind-kirche.de;
Fotos vom Weltjugendtag: www.wyd4all.org;
Infos zur Kondomkampagne: www.condoms4life.org
Zuletzt geändert am 18.05.2006