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Veröffentlicht am 29­.11.2010

29.11.2010 - DerWesten

Die Kirche hat sich „erheblich bewegt“

Thomas Rünker

Berlin. Pater Klaus Mertes, der Leiter des Berliner Canisius Collegs, hatte im Januar Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche öffentlich gemacht und ein Erdbeben ausgelöst. Die Kirche hat sich bewegt, sagt er heute - aber es sind noch mehr Anstrengungen nötig.

In der Welle von Missbrauchsfällen, die die katholische Kirche in Deutschland in diesem Jahr überrollt hat, ist Pater Klaus Mertes eine Symbolfigur geworden. Im Januar machte der Leiter des Berliner Canisius-Collegs Missbrauchsfälle an dem Jesuitengymnasiums öffentlich. Danach haben sich auch andere Opfer ermutigt gefühlt, oft nach Jahrzehnten erstmals von ihrem Leid zu erzählen.

Pater Mertes, wie sieht am Ende diese Jahres Ihre Bilanz aus?

Pater Mertes: Ich denke, dass wir ein paar Meter vorangekommen sind. Zunächst bei der Aufklärung der Missbrauchsfälle. Es ist sicher noch nicht alles aufgeklärt – aber viel. Zudem ist das Präventionsthema jetzt als ein wichtiges kirchliches Thema akzeptiert. Und als Drittes sind wir beim Verstehen der Forderung nach Entschädigung weitergekommen.

Sind die Altfälle jetzt alle aufgedeckt?

Pater Mertes: Es sind eine Menge Altfälle ans Licht gekommen, aber sicher nicht alle. Vor allem ist aber ans Licht gekommen, dass sehr viele Fälle nicht nur darin bestehen, dass ein Missbrauchstäter Kindern Gewalt angetan hat. Vielmehr hat oft auch das Umfeld – ob familiär, gesellschaftlich oder kirchlich – nicht angemessen reagiert als die Opfer versucht haben zu sprechen.

Sprachlosigkeit in der Sexualpädagogik

Es wurde reichlich vertuscht...

Pater Mertes: Ja. Auch dieser Begriff ist in den vergangenen Monaten klarer geworden. Am Anfang ist er in der Kirche gar nicht akzeptiert worden, weil immer das absichtliche Vertuschen im Vordergrund stand – wobei es tatsächlich auch Fälle gab, in denen absichtlich vertuscht wurde. Aber das Problem fängt ja schon früher an, zum Beispiel, wenn ein Kind über einen Missbrauch sprechen will und die Eltern sagen: „So spricht man nicht über einen Priester.“

Wie bewerten Sie die Lehren, die die Kirche in Deutschland aus den Missbrauchsfällen gezogen hat?

Pater Mertes: Die Kirche hat sich – nach einer Schreckstarre, die man angesichts des unglaublichen Ausmaßes des Problems aber auch zugestehen muss – erheblich bewegt.
Ich würde mir allerdings wünschen, dass bei der Vorbeugung sexuellen Missbrauchs noch stärker die ganz grundsätzlichen Themen angesprochen werden, nämlich die Sprachlosigkeit in der Kirche im Bereich Sexualpädagogik, und die Frage, wie wir in eine Diskussion über die Ausübung von Macht in der katholischen Kirche einsteigen, die Macht weniger sakrosankt macht als wir es derzeit noch erleben.

Ist die von Bischof Zollitsch, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, angestoßene Dialoginitiative ein Weg, in dieser Diskussion weiterzukommen?

Pater Mertes: Ja, das ist eine große Chance, diese Themen offen anzusprechen.

Ihr Orden war eine der ersten Organisationen, die einen konkreten Vorschlag zu Entschädigungszahlungen präsentiert hat. Wie steht es mit der Umsetzung?

Pater Mertes: Wir verstehen den Satz der Opfer „Ein Entschuldigung allein reicht nicht.“ und akzeptieren, dass Geld eine Form ist, um Leid anzuerkennen und den Opfern zu signalisieren: Das, was euch in der Kirche geschehen ist, tut uns weh. Nachdem wir nun einen ersten, noch nicht näher bezifferten Vorschlag vorgelegt haben – Pater Provinzial (der Provinzobere des Jesuitenordens, die Red. ) sprach von einer vierstelligen Summe – gehe ich davon aus, dass wir in den kommenden Monaten mit dieser pauschalen Zahlung an die Opfer beginnen werden.

Es wird dabei keine Abwägung des Leids geben?

Pater Mertes: Nein. Es wird allenfalls eine Härtefallklausel geben, so dass wir in Einzelfällen ein wenig variabel sein können. „Es ist das gute Recht der Opfer, unsere Geste auch auszuschlagen“

Und nach den Entschädigungszahlungen sind die Fälle dann abgeschlossen?

Pater Mertes: Ich vermeide den Begriff „Entschädigung“. Es geht um eine Zahlung als Anerkennung des Leids – das ist unser Angebot. Wem dies nicht reicht, der wird vermutlich eigene Forderungen stellen. Wenn es dann um wirkliche Entschädigung im eigentlichen Wortsinn geht, kann es nicht mehr um pauschale Zahlungen gehen. Dann muss man die Fälle mit anderen vergleichen und das Leid in irgendeiner Form quantifizieren. Dann muss es um gerichtliche Verfahren und um eine Vergleichbarkeit zu anderen gesellschaftlichen Gruppen geben.

Das klingt nach längeren Rechtsstreitigkeiten.

Pater Mertes: Ja, vielleicht wird es juristische Auseinandersetzungen geben. Vielleicht wird es mit einigen Opfern auch dauerhaft keinen Frieden geben, damit müssen wir auch rechnen.

Es ist das gute Recht der Opfer, unsere Geste auch auszuschlagen.

Mit wie vielen Opfern hatten Sie in den vergangenen Monaten zu tun?

Pater Mertes: So um die 90 werden es gewesen sein.

Und wie ist nun die Atmosphäre an Ihrer Schule?

Pater Mertes: Es gibt eine unglaubliche Erschöpfung nach diesem Sturm, der über unsere Schule hinweg gegangen ist. Aber es gibt auch einen Stolz darauf, dass wir auf diese Weise mit unserer Geschichte umgegangen sind, auch unter den ehemaligen Schülern. Wir hatten vor Kurzem ein Treffen ehemaliger Schüler, bei denen sich die Opfer erstmals in ihren Jahrgängen zu erkennen gegeben haben. Die ehemaligen Mitschüler haben sich dann auch gefragt, wieso sie damals nichts mitbekommen haben.
Durch diesen Prozess sind auch ganz neue, spannende Themen in der Schule aufgebrochen. Egal ob Fragen nach Versöhnung, nach Sexualpädagogik und Kirche oder dem Machtverhältnis zwischen Lehrern und Schülern – all dies wird plötzlich ansprechbar, das ist sehr gut. Insgesamt gibt es auf jeden Fall einen Vertrauensgewinn. Die katholische Kirche muss den offenen Dialog suchen Wie hat sich für Sie als katholischer Priester in den vergangenen Monaten das Bild ihrer Kirche verändert?

Pater Mertes: Viele verstehen unter dem Begriff Kirche ja vor allem die Hierarchie. Aber ich sehe in ihr seit diesem Jahr noch viel stärker als zuvor vor allem die Gemeinschaft der Gläubigen.

Ein Gemeinschaft, in der das Vertrauen vieler Mitglieder in die Leitung zuletzt massiv erschüttert wurde.

Pater Mertes: Ich persönlich habe aus der Gemeinschaft der Kirche eine riesige Unterstützung erfahren. Ich erlebe aber auch diese wahnsinnige Enttäuschung über die Blockaden in der Kommunikation mit der Hierarchie. Diese Enttäuschung macht mir große Sorgen. Deshalb gibt es aus meiner Sicht auch keine Alternative dazu, dass die Leitung der Kirche wieder in einen offenen Dialog mit ihren Mitgliedern einsteigt.

Neben dem Zuspruch der Laien sieht mancher Kirchenführer Sie als Nestbeschmutzer.

Pater Mertes: Ja, das hat mich schon sehr verstört und ich verstehe bis heute nicht, wie man zu so einer Auffassung kommen kann. Jeder Kirchenobere, der das ernsthaft behauptet, befindet sich noch immer in der Logik des Schweigens und damit in der Mitverantwortung für Missbrauch.

Die Kirchenreformbewegung „Wir sind Kirche“ vergleicht sie mit Friedrich Spee, der – Jesuitenpater wie Sie – mit seinen Veröffentlichung das Ende der Hexenverfolgungen im Mittelalter eingeläutet hat.

Pater Mertes: (lacht) Ich habe mich viel mit Friedrich Spee befasst, aber diese Zuordnung muss „Wir sind Kirche“ verantworten.

Ist zumindest die Erschütterung, die die Hexenverfolgung für die Kirche bedeutet hat, mit der durch die Missbrauchsfälle vergleichbar?

Pater Mertes: Vielleicht ja. Die aktuelle Erschütterung ist riesig und ich hätte nie gedacht, dass ich als kleiner Schulrektor sie auslösen könnte. Und es gibt einen Punkt dabei, an dem mir Friedrich Spee tatsächlich wichtig ist: Ihm kam beim Hören der Beichten von Hexen der Verdacht, die könnten ja alle unschuldig sein. Und diesen Verdacht zuzulassen – in einem Umfeld, in dem es selbstverständlich war, dass die Prozesse einschließlich der Folter in Ordnung waren – und schließlich das Opfer als Opfer zu sehen und den Mut zu haben, das auch auszusprechen, das habe ich an Friedrich Spee immer bewundert. Und da gibt es tatsächlich eine gewisse Parallele in der Sache. Denn es war ja auch für mich nicht leicht, die Opfer als Opfer zu erkennen. Das war ein längerer Klärungsprozess – für die Kirche, aber auch für mich persönlich.

http://www.derwesten.de/nachrichten/politik/Die-Kirche-hat-sich-erheblich-bewegt-id4001379.html

Zuletzt geändert am 04­.12.2010