Hundertfacher Missbrauch von Kindern durch Pfarrer, Intrigen, Lügen und Repressalien unter Seelsorgern: Die Wahrheiten, die 2010 ans Licht kamen, lassen für viele die Kirchen in Bayern nicht als Hort der Nächstenliebe in der Nachfolge Christi erscheinen. Insbesondere die katholische Kirche scheint vielen eine Organisation zu sein, die in den vergangenen 50 Jahren ihren eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht wurde und das Handeln ihrer kriminellen Mitglieder sogar noch deckte. „Wir bitten als Kirche um Vergebung für das, was Mitarbeiter der Kirche getan haben“, sagte Kardinal Marx. Aber reicht das, um nun an Weihnachten in die Gottesdienste zu strömen und zu feiern, als ob nichts gewesen wäre? Viele Christen sagen nein, vor allem Katholiken verlassen ihre Kirche. In der Stadt München traten bis Ende November 7988 Gläubige aus, am Ende des Skandaljahres wird es wohl 2000 Austritte mehr gegeben haben als 2009. Hat die Kirche ihren Anspruch und ihre Rolle in der Gesellschaft verspielt? Wozu braucht es sie noch? Die Süddeutsche Zeitung hat Menschen aus ganz Bayern diese Frage gestellt, gläubigen Christen wie bekennenden Atheisten. Ihre Antworten werden auf diesen Seiten und in den nächsten Tagen dokumentiert – als Anstoß für eine Debatte über die Zukunft der Kirchen. Wenn Sie sich daran beteiligen wollen, schreiben Sie uns unter E-Mail:
muenchen-region@sueddeutsche.de.
Christian Krüge
Mehr als nur eine Sozialstation
Christian Weisner, 59, Mitglied des Bundesteams von „Wir sind Kirche“ aus Dachau:
„Für viele ist Kirche heute nur noch eine Institution, über die man sich manchmal ärgert, die aber auch so hilfreiche Dienste wie die Caritas und die Telefonseelsorge betreibt, kirchliche Kindergärten, Schulen und Altenheime. Doch so wichtig dies alles ist: Kirche ist mehr als eine Sozialstation, mehr als ein sozialer Dienstleister. Kirche, das sind für mich vor allem die Menschen. Nicht nur – wenn man katholisch ist – der Papst, der Bischof oder der Herr Pfarrer. Nein, Kirche, das sind die Menschen wie Du und ich, mit denen mich der gemeinsame christliche Glaube verbindet, mit denen ich Gottesdienst feiern kann, mit denen ich auch meinen Alltag gestalten kann. Kirche, das sind die Mitmenschen, mit denen ich Sorgen und Hoffnungen teilen kann, mit denen ich mich gemeinsam engagiere. Gottes- und Nächstenliebe, die beiden Pfeiler des Glaubens, sind auf Gemeinschaft angelegt. Wenn wir im Alltag die christliche Botschaft von Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in die Welt tragen, dann gehören wir nicht nur zur Kirche, dann sind wir schon Kirche.“
Christian Weisner, Stadt- und Verkehrsplaner aus Dachau, war 1995 Mitinitiator des Kirchenvolksbegehrens für mehr Rechte für Laien in der katholischen Kirche.