November 2000 - Kirche intern 14. Jg., Nr. 11
Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes
Mehr als 2,3 Millionen Menschen haben allein im deutschsprachigen Raum das 1995 in Österreich gestartete Kirchenvolksbegehren mit ihrer Unterschrift unterstützt. Auch wenn bis jetzt noch keine der Forderungen erfüllt worden ist, gibt es viele Aufbrüche im Kirchenvolk, die Mut machen und Hoffnungszeichen setzen. CHRISTIAN WEISNER von der deutschen KirchenVolksBewegung berichtet über die Situation in Deutschland.
"Dialog statt Dialogverweigerung" - mit diesem provokativen Titel hatte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), immerhin die höchste Vertretung der katholischen Laien, den trotz vieler Synodenbeschlüsse und vorhandener Beratungsgremien bestehenden Reformstau in der Kirche schon im Mai 1993 angeprangert. Mit der Initiative Kirche von unten und der Zeitung Publik-Forum waren es dann allerdings zunächst zwei Basisinitiativen, die dafür sorgten, dass Deutschland das erste Land war, das ein Kirchenvolksbegehren nach österreichischem Vorbild startete.
Mehr als 1,8 Millionen Menschen, von denen sich 1,5 Millionen ausdrücklich zur römisch-katholischen Kirche bekannten, haben die fünf Forderungen im Herbst 1995 in Deutschland unterschrieben. Bemerkenswert: der Anteil unter den Katholiken war fast genauso hoch wie in Österreich. Die von den US-amerikanischen Religionssoziologen Andrew Greely und Michael Hout 1996 verfasste internationale Studie beweist, dass die Forderungen nach einer Erneuerung der kirchlichen Strukturen aber nicht nur in Österreich oder in den von der Reformation geprägten Ländern verankert sind. Während bei Meinungsumfragen in Deutschland 70 bis 80 Prozent der praktizierenden Katholikinnen und Katholiken den Punkten des Kirchenvolksbegehrens zustimmen, sind es in katholischen Ländern wie Spanien und Irland immerhin drei Viertel. Und selbst im scheinbar so katholischen und papsttreuen Polen liegt die Zustimmung bei fast 50 Prozent.
Rückenwind für Reformen In der Phase der Unterschriftensammlung war die Skepsis der "etablierten" Verbände gegenüber dem von der Basis initiierten Kirchenvolksbegehren noch sehr groß. Doch während des mittlerweile fünfjährigen Wirkens der aus dem Kirchenvolksbegehren hervorgegangenen KirchenVolksBewegung hat sich die kirchenpolitische Landschaft in Deutschland zusehends gewandelt. Das Zentralkomitee hat sich in vielen Fragen geöffnet und nimmt seine ursprüngliche Aufgabe als eigenständige Laienvertretung wieder stärker wahr. Vom derzeitigen Präsidium des Zentralkomitees wie auch von zahlreichen katholischen Verbänden werden wesentliche Forderungen des Kirchenvolksbegehrens jetzt mitgetragen. Und auch die Bischöfe mussten erkennen: es sind gerade die in den Kerngemeinden engagierten Menschen, die sich für Reformen im Sinne des Kirchenvolksbegehrens einsetzen. Aus einer Unterschriftensammlung ist ein Bewusstseinsänderungsprozess entstanden, wie es ihn seit dem 2. Vatikanischen Konzil nicht gegeben hat.
Doch nicht nur in den Köpfen und Herzen der Menschen hat das Kirchenvolksbegehren viel verändert, es gibt auch ganz konkrete Erfolge:
- Mit vielen Initiativen und Arbeitshilfen zeigt Wir sind Kirche in der gegenwärtigen pastoralen Umbruchsituation Wege für eine neue Mit- und Selbstverantwortung der so genannten Laien in den Gemeinden auf. Bereits zweimal wurde ein "Pfingstbrief" an die Vorstände aller 13.300 Pfarrgemeinderäte in Deutschland verschickt. Mit den Aufrufen zur KirchenVolksPredigt ist die Praxis der Laienpredigt wieder belebt worden.
- Die von Wir sind Kirche vorbereiteten Diskussionsforen auf den Katholikentagen 1998 in Mainz (mit Bischof Jacques Gaillot und Prof. Dr. Paul Zulehner) und 2000 in Hamburg (mit Prof. Dr. Hans Küng) gehörten zu den jeweils am besten besuchten Veranstaltungen. Schon jetzt ist die KirchenVolksBewegung in die Vorbereitungen zum ersten Ökumenischen Kirchentag, der im Jahr 2003 in Berlin stattfinden soll, einbezogen.
- Das Thema Frauenordination ist trotz römischer Denk- und Diskussionsverbote virulenter denn je. Mit der Aktion "Lila Stola" bei Priester- und Diakonweihen ist ein einprägsames Zeichen für die Forderung der Frauenordination geschaffen worden. Im Herbst 1999 wurde der vom "Netzwerk Diakonat der Frau" getragene dreijährige Ausbildungsgang gestartet, an dem auch Frauen aus der KirchenVolksBewegung beteiligt sind.
- In der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung hat die KirchenVolksBewegung eine wichtige Schrittmacherfunktion für die Weiterführung durch katholische Laienverbände wie Donum Vitae ausgeübt. Die erste Beratungsstelle des zur KirchenVolksBewegung gehörenden Vereins Frauenwürde e.V. konnte im Juli 2000 eröffnet werden.
Zerreißprobe für die deutsche Kirche Die seit mehr als zehn Jahren andauernde Auseinandersetzung um die Schwangerschaftskonfliktberatung hat die katholische Kirche in Deutschland vor eine nie zuvor dagewesene Zerreißprobe gestellt. Auf mehrfache Anweisung des Papstes werden - bis auf einen - vermutlich alle 27 deutschen Bischöfe bis zum Ende des Jahres 2000 aus dem staatlichen Beratungssystem für Frauen in Schwangerschaftskonflikten aussteigen. Über diesen blinden Gehorsam gegenüber Rom und das Handeln der Bischöfe gegen ihr eigenes Gewissen ist die Enttäuschung im Kirchenvolk unbeschreiblich groß. Um so mehr, da das weltweit einmalige und vom Staat mitfinanzierte Beratungssystem (nach deutschem Recht ist eine Abtreibung nicht erlaubt, jedoch straffrei, wenn die Frau vorher eine Beratung aufsucht) unter wesentlicher Mitwirkung der katholischen Kirche eingerichtet wurde.
Bei allen negativen Folgen für die Glaubwürdigkeit der Kirchenleitung haben diese Auseinandersetzungen auch das positive Ergebnis gebracht, dass sich Laien ihrer Verantwortung für die Kirche bewusst werden: Kirche - das sind nicht nur Papst und Bischöfe, sondern in erster Linie die, die sich als Volk Gottes empfinden und dem Auftrag Jesu folgen, für den Nächsten da zu sein.
"Wenn es eine Institution gibt, die innerhalb der katholischen Kirche die Stimme als das 'Volk Gottes' erhebt, dann ist das die KirchenVolksBewegung," schrieb uns unlängst ein ehemaliger Dechant. "Und wenn das alte Sprichwort gilt: vox populi - vox dei (die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes), dann lässt das etwas vom Stellenwert dieser Stimme erahnen."
Doch auf diese Stimme wollen die Bischöfe immer noch nicht hören. Trotz zahlreich wiederholter Dialogversuche seitens der KirchenVolksBewegung ist der direkt nach dem Kirchenvolksbegehren mit Bischof Lehmann, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, aufgenommene Dialog von vielen Bischöfen gar nicht oder nur sehr zögerlich weitergeführt worden.
Offener Brief an die Bischöfe
Fünf Jahre nach dem Kirchenvolksbegehren hat die KirchenVolksBewegung deshalb die deutschen Bischöfe in einem Offenen Brief zu einer ehrlichen Offenlegung der kritischen Lage der Kirche in Deutschland aufgefordert. Darin heißt es u.a.: Gerade wer eine dringend nötige Erneuerung des Glaubens und der Verkündigung des Evangeliums will, kann dies nur glaubwürdig unter Einschluss struktureller Reformen tun. Glaubensfragen und Strukturfragen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Angesichts der sich häufenden tiefgehenden Eingriffe des Vatikans in die Ortskirchen auch bei pastoralen Fragen erwartet das Kirchenvolk endlich eine öffentliche Kritik der deutschen Bischöfe am gegenwärtigen zentralistischen Kurs des Vatikans.
Die KirchenVolksBewegung braucht einen langen Atem, um erstens die Vernetzung aller reformorientierten Kräfte weiter voran zu bringen, zweitens den Kontakt mit den vielen aufgeschlossenen oder auf dem Wege befindlichen Pfarrgemeinden zu halten und drittens immer wieder den Dialog mit den Bischöfen und Kirchenleitungen zu suchen. Statt Resignation und Frustration leisten wir unseren Beitrag zu einer offenen, den Menschen zugewandten, erfreulichen und erfreuenden Kirche. Leitmotiv einer zukunftsfähigen Kirche kann nur sein: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger und Jüngerinnen Christi" (Gaudium et Spes 1). Dass die fundierte Kritik des Kirchenvolkes am derzeitigen römischen Zentralismus auch von namhaften Theologen, Bischöfen und Kardinälen in aller Welt geteilt wird, lässt hoffen: Der Wandel steht bevor!
Christian Weisner ist einer der drei Initiatoren des Kirchenvolksbegehrens in Deutschland und seitdem Mitglied des sechsköpfigen Bundesteams der KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche.
In der nächsten Ausgabe wird Elfriede Harth, Sprecherin der 1996 gegründeten Internationalen Bewegung Wir sind Kirche (IMWAC), über die weltweite Vernetzung der KirchenVolksBewegung auf allen fünf Kontinenten berichten.
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Der fulminante Start von "Wir sind Kirche" hat an der Basis allerhand ausgelöst, oben noch zu wenig. Also: Nicht zuwarten, bis..., sondern weiter handeln, damit...
Br. Walbert Bühlmann, Kapuzinerkloster Olten
Die KirchenVolksBewegung ist eine mutige und sehr wichtige Initiative in der Kirche. Das Bewusstsein "wir sind Kirche" ist dadurch gewachsen, und so danke ich allen, die diese Bewegung ins Leben gerufen haben, die mitmachen und sie unterstützen. ...
Sr. Dr. Lea Ackermann, Frau Europas 1998
Das Christentum wurde nicht in Rom erfunden, sondern in einigen schmuddligen Dörfern in Galiläas. Es wuchs durch Heilungen, nicht durch Regelungen und Diktate. Es wächst auch heute von unten, subversiv, es lernt aus der Geschichte den einfachen Satz: WIR SIND DAS VOLK.
Prof. Dr. Dorothee Sölle
"Wir sind das Volk" - diese Parole gilt nach fünf Jahren Kirchenvolksbewegung angesichts neuer antiökumenischer Aktionen und Deklarationen des Vatikans mehr denn je. Und wir werden weitermachen: unverdrossen, gelassen, aber auch entschieden. Die übergroße Mehrheit der Katholiken ... will endlich die überfällige Reform der Katholischen Kirche auf der Linie des Vatikanum II, will Ökumene und Abendmahlsgemeinschaft, will den Frieden und die Verständigung unter den Religionen.
Professor Dr. Hans Küng
Zuletzt geändert am 26.06.2006