Dezember 2005 - Herder Korrespondenz 59 (2005) 599-600
Reformanda: Auch die Kirchenvolksbewegung feiert ein Jubiläum
Viel ist in diesen Tagen von der Reform der Kirche die Rede, von Unerledigtem und Erledigtem: Im Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil, das vor 40 Jahren am 8. Dezember endete, und in Erinnerung an die so genannte Würzburger Synode, das „deutsche Konzil“, das vor 30 Jahren, am 23. November 1975 zum letzten Mal tagte (vgl. dieses Heft, 604 ff.)
Mit dem Schlagwort Reform versuchen die Diözesan-Haushälter der unausweichlichen Prioritäten- und Posterioritätendiskussion, den mit dem Rotstift geplanten Umbauarbeiten einen Hauch von Aufbruchstimmung zu verleihen. Und die kürzlich zu Ende gegangene Bischofssynode hat eindrücklich gezeigt, dass es auch auf universalkirchlicher Ebene einen hohen Reformbedarf gibt (vgl. dieses Heft, 613 ff). Als Zeichen und Werkzeug für das Reich Gottes ist die Kirche immer reformbedürftig.
Auch die ganz dieser Reform der Kirche verschriebene Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“ feiert in diesen Tagen ein Jubiläum, hält Rück- und Ausschau. Vor zehn Jahren, am 12. November 1995, endete das deutsche Kirchenvolksbegehren mit seinen Forderungen nach mehr Demokratie in der Kirche, der Gleichberechtigung der Frauen, nach Aufhebung des Pflichtzölibats für Priester, der positiven Bewertung der Sexualität in Verkündigung und Lehre und überhaupt, der Verkündigung der Frohbotschaft statt einer „Drohbotschaft“.
So zog die diesjährige Bundesversammlung von „Wir sind Kirche“ mit einem Festakt in Köln vorsichtig Bilanz über die vergangenen zehn Jahre und fragte, was denn in dieser Zeit erreicht worden sei. Die Antwort darauf reichte von einem nüchternen „Nichts“ (im kirchenrechtlichen Sinne) bis zum eindringlichen Appell, angesichts der wohl unterschätzten Beharrungskräfte in der Kirche dennoch nicht ständig nur von Ohnmacht und drohender Resignation zu sprechen. Man habe nichts erreicht, aber viel bewegt, lautete schließlich die treffende, wenngleich auch etwas melancholisch anmutende Formel, unter der die etwa hundert Teilnehmer aus allen Diözesen Deutschlands den Einsatz für die Reform ihrer Kirche zu fassen suchten. Was aber hatte man erwartet? Die Forderungen des Kirchenvolksbegehrens waren ja in sich schon reichlich disparat; darunter waren Themen, über die sicher geredet werden kann und solche, bei denen das Lehramt auf absehbare Zeit jede weitere Diskussion unterbinden wird.
Gilt heute unverändert, dass nur ist, was auch in den Medien wahrgenommen wird, kann sich die Kirchenvolksbewegung gerade in ihrem Jubiläumsjahr eigentlich kaum beschweren. Dieses Jahr, das mit dem Pontifikatswechsel im Frühling und dem Kölner Weltjugendtag im Sommer der katholischen Kirche in Deutschland insgesamt so viel massenmediale Aufmerksamkeit bescherte, hat in gewisser Weise auch ihren selbsterklärten Reformern genutzt.
Suchten Reporter und Redakteure der innerkatholischen Vielstimmigkeit und Pluralität, dem fraglos vorhandenen Reformstreben Rechnung zu tragen, baten sie zu beiden Großereignissen die Verantwortlichen der Kirchenvolksbewegung vors Mikrophon. Und selbstredend waren diese um die erhoffte Stellungnahme nicht verlegen.
Erwartungsgemäß verwiesen sie auf die Ambivalenz im Pontifikat Johannes Pauls II., die Spannung zwischen der Öffnung der Kirche nach außen und Blockaden im Inneren. Pflichtschuldig warnte man vor dem Gefahrenpotenzial, das der zum neuen Papst gewählte langjährige oberste Glaubenswächter für den weiteren Reformprozess in der Kirche darstelle. So blieb man kritisch gegenüber Sinn und Nutzen des papstbegeisterten Massenevents in Köln und monierte nicht zuletzt dessen hohe Kosten bei fragwürdiger Rendite. Eine vergleichbare Medienaufmerksamkeit hatte die Kirchenvolksbewegung zuletzt während des Ökumenischen Kirchentages 2003 in Berlin erlangt – mit ihrer für die deutschen Bischöfe wie für das veranstaltende Zentralkomitee der deutschen Katholiken gleichermaßen herausfordernden Einladung zum „gemeinsamen Abendmahl“ in der Berliner Gethsemanekirche.
Zugleich aber boten die beiden Großereignisse dieses Jahres auch den notorischen Kritikern der Kirchenvolksbewegung Gelegenheit, die Reformer an ihrer wundesten Stelle zu treffen. Assistiert vom papstfreundlichen Feuilleton freuten sich die Vertreter des demonstrativ lehramtsloyalen Flügels: Für sie waren die begeisterten Jugendlichen auf Petersplatz und Marienfeld der lebendige Beweis dafür, wie vorgestrig die grau gewordenen Kirchenvolksbegehrer in ihrem Leidensgestus und ihrer Fixierung auf Kirchenstruktur und -disziplin doch sind, nach dem Motto: Diese Jugend interessiert sich nicht mehr für eure Probleme mit Kirche und Papst!
Nun lässt sich trefflich über die Kirchlichkeit heutiger Jugendlicher, ihre religiöse Disposition und Motivation streiten. Fraglos definieren viele dieser Jugendlichen eine sehr eigenständige und individuelle Kirchenzugehörigkeit mit viel größerer Nonchalance, als ihre Eltern und erst recht ihre Großeltern das konnten. Eine „Drohbotschaft“ hat diese Generation nie gehört. Ebenso unbestreitbar aber ist diese Kirchenvolksbewegung ein Generationenprojekt, getragen von denen, die die kirchliche Aufbruchstimmung durch das Zweite Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode noch selbst miterlebt haben.
Der unerwartete Erfolg des Kirchenvolksbegehrens vor zehn Jahren war der Tatsache geschuldet, dass es den vielen, in ihren Pfarrgemeinden, Gruppen und Verbänden mit großer Selbstverständlichkeit engagierten „Durchschnittskatholiken“ ein Ventil schuf für den tiefempfundenen Überdruss angesichts eines nicht wegzuredenden Reformstaus in der Kirche. Eine wirkliche Reformbewegung ist allerdings aus dem Kirchenvolksbegehren nicht entstanden. A. F.
Zuletzt geändert am 21.02.2016