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Veröffentlicht am 08­.12.2012

8.12.2012 - Die Welt

Täter im Priesterrock sind nur selten pädophil

Geistliche, die Kinder missbrauchen, sind nicht zwingend pädophil. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten im Auftrag der katholischen Kirche. Betroffene forderten eine kirchenunabhängige Aufarbeitung. Von Gernot Facius

Die Welle der im Jahr 2010 bekanntgewordenen sexuellen Missbrauchsfälle hat die katholische Kirche in Deutschland in ihre schwerste Krise seit dem zweiten Weltkrieg gestürzt. Eine jetzt von der Deutschen Bischofskonferenz in Trier vorgestellte Analyse forensischer Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Priester, die Minderjährige missbrauchen, in den seltensten Fällen im klinischen Sinn pädophil sind.

"Diesbezüglich zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede zu Erhebungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung", sagte der Psychiatrieprofessor Norbert Leygraf von der Universität Duisburg-Essen.

Leygraf hat mit Kollegen von der Charité in Berlin und der Universität Ulm 78 psychiatrisch-psychologische Gutachten von Geistlichen aus dem Zeitraum von 2000 bis 2010 analysiert. Er zieht daraus den Schluss: "Die vorgeworfenen sexuellen Übergriffe wurden aus Beweggründen begangen, die sich überwiegend dem normalpsychologischen Bereich zuordnen lassen und nur in wenigen Fällen Folge einer spezifischen Psychopatholie waren."

Nur neun von 78 Tätern pädophil

Neun der 78 begutachteten Kleriker waren pädophil, vier zeigten homosexuelle Neigungen zu pubertierenden Jungen, von den restlichen 65 Personen wiesen 54 Prozent eine heterosexuelle Orientierung auf, 37 Prozent eine homosexuelle und neun waren bisexuell.

Dass es deutlich mehr männliche als weibliche Betroffene gibt, hat laut Leygraf einen einfachen Grund: Bis in die 1980er-Jahre waren Mädchen kaum als Ministranten tätig. Geistliche hätten somit über ihren Beruf seltener einen direkten Zugang zu Mädchen gehabt.

Professor Leygraf: "Die Mehrheit der bekanntgewordenen Übergriffe fand zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren und in einer Zeit statt, in der noch ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein und eine geringere Sensibilität für das Thema sexueller Handlungen an Kindern und Jugendlichen vorherrschte."

Therapierte Täter werden selten rückfällig

Das Verständnis habe sich im Laufe der Jahre sowie innerhalb der katholischen Kirche als auch gesamtgesellschaftlich gewandelt. Heute stünden größtmögliche Transparenz und das Bemühen um rasche Aufklärung von Missbrauchsfällen im Mittelpunkt.

Professor Leygraf ging auch auf das Problem der Rückfälligkeit von Tätern im Priesterrock ein. Demnach zeigen Therapien für Priester, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, laut internationalen Befunden Erfolge: "Es trat ein relativ kleiner Teil von etwa fünf Prozent erneut mit sexuellen Übergriffen in Erscheinung."

Inwiefern "unbehandelte" übergriffige Priester eine geringere oder höhere Rückfallrate aufwiesen, sei bis heute unbekannt. Leygraf gibt sich aber sicher: "Verbleiben sexuell übergriffige katholische Geistliche innerhalb ihrer Kirche, dann verfügen sie über ein soziales Kontroll- und Unterstützungsnetzwerk, welches unter rückfallpräventiven Gesichtspunkten als protektiver Faktor angesehen werden kann." Voraussetzung ist dafür aber, dass die Täter zuvor überführt werden.

"Das entspricht in keiner Weise der Nulltoleranz-Strategie etwa der US-Bischöfe oder auch des Papstes", sagte Christian Weisner von "Wir sind Kirche" der "Berliner Zeitung". Leygraf lasse zudem entscheidende Fragen völlig offen: "Welche Männer werden Priester? Und wie werden sie in der katholischen Kirche sexuell sozialisiert?" Der Missbrauchsskandal werde "definitorisch kleingerechnet".

Ackermann erhofft sich Erkenntnisse für Prävention

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, der als Missbrauchsbeauftragter des deutschen Episkopats fungiert, erhofft sich von der Studie eine neue Qualität in der Debatte um den Umgang mit Tätern im Bereich der Kirche. Außerdem erhoffe man sich Hinweise zu erhalten, "wie wir unsere Präventionsmaßnahmen noch verstärken beziehungsweise präzisieren müssen. 21 der 27 deutschen Bistümer hatten für die Untersuchung insgesamt 93 Gutachten eingereicht. Nach Ausschluss von Gutachten, die nicht den Prüfkriterien entsprachen, umfasste die "Gesamtstichprobe" 78 Personen.

Empirische Daten über die Persönlichkeit beschuldigter Priester und deren Taten wurden mit allgemein bei sexuellen Missbrauchshandlungen bekannten Befunden abgeglichen, um wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu erhalten. Der Schwerpunkt der Studie lag nach Worten von Bischof Ackermann nicht auf einer umfassenden historischen Abbildung, sondern auf Vorwürfen, die zwischen den Jahren 2000 und 2010 begutachtet wurden. Die Vorfälle selbst lagen dabei aber häufig deutlich länger zurück.

Die Deutsche Bischofskonferenz hat bereits im Jahr 2002 für alle Diözesen verbindliche Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch erlassen, die 2010 überarbeitet wurden. Seither gibt sie auch forensisch-psychiatrische Gutachten in Auftrag, wie sie seit 2010 in den Leitlinien verbindlich vorgeschrieben sind. Die jetzt in Trier vorgestellten Ergebnisse stellen, so Bischof Ackermann, einen weiteren Schritt im Bemühen eine "transparente Missbrauchsaufarbeitung" in der katholischen Kirche dar.

Betroffene kritisieren interne Untersuchungen

Der Gründer und Vorsitzende des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt (netzwerkB), Norbert Denef, forderte eine unabhängige Kommission zur Aufklärung der sexuellen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Nur so könne den Opfern Gerechtigkeit widerfahren, sagte Denef. In einem solchen Gremium müssten kirchenunabhängige Mitglieder den Missbrauch in der Kirche systematisch aufarbeiten. "Man würde ja auch nicht die Mafia bitten, ihre eigenen Verbrechen aufzuklären", sagte Denef mit Blick auf die kircheninternen Untersuchungen.

Überdies brauche man eine Melde- und Anzeigepflicht bei Missbrauchstaten von Priestern. Damit könne eine strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen sichergestellt werden. Außerdem sollte die Kirche auf die gesetzlich verankerte Verjährung der Taten verzichten, da viele der Opfer Jahre oder gar Jahrzehnte brauchen, um ihr Schweigen über das Erlittene zu brechen.

"Ich will ein klares Schuldeingeständnis"

"Es geht mir nicht darum, die Kirche kaputt zu machen", sagte Denef. Bislang aber werde für die Opfer sexuellen Missbrauchs nichts getan. Das Angebot der Kirche, jedem Betroffenen 5000 Euro zu zahlen, sei "ein billiges Freikaufen aus der Verantwortung". Das Leben der Missbrauchten sei aber in aller Regel nachhaltig zerstört, sie lebten zumeist am Existenzminimum.

Neben Geld brauche es vor allem ein klares Bekenntnis zur Verantwortung. "Ich will ein klares Schuldeingeständnis der Kirche", sagte Denef, der in seiner Kindheit selbst über Jahre von einem Pfarrer missbraucht worden war. Stattdessen spekuliere die Kirche auf eine kurze Aufmerksamkeitsspanne für das Thema in der Öffentlichkeit und habe kein echtes Interesse daran, reinen Tisch zu machen.

http://www.welt.de/politik/deutschland/article111884752/Taeter-im-Priesterrock-sind-nur-selten-paedophil.html

Zuletzt geändert am 08­.12.2012