| |
Veröffentlicht am 27­.06.2013

27.6.2013 Stuttgarter Zeitung

Alle träumen vom "römischen Frühling"

Bilanz. In seinen ersten 100 Tagen hat Papst Franziskus viel bewegt. Das sagen Kirchenexperten bei einer Diskussion. Von Michael Trauthig

Was sind schon 100 Tage bei einer Institution, die rund 2000 Jahre alt und der Ewigkeit verpflichtet ist? Eigentlich ein "Muckaschiss", wie Hermann Merkle, der Leiter des Hauses der Katholischen Kirche, treffend bemerkt- einerseits. Andererseits habe Papst Franziskus eben in seinen nun schon 104 Tagen im Amt mit Worten und Gesten Hoffnungen auf eine neue Ära in der römisch-katholischen Kirche geweckt. Die Erwartungen seien also groß. Wie tragfähig diese aber sind, ob Wünsche auf Reformen in Erfüllung gehen oder am Ende nur bittere Enttäuschung bleibt, darüber haben am Dienstagabend Vatikanexperten in Stuttgart diskutiert und einträchtig Optimismus verbreitet.

Peter Hünermann etwa kennt Jorge Marie Bergoglio, den ersten Lateinamerikaner an der Kirchenspitze, so gut wie nur wenige andere. Der Theologe begegnete dem Geistlichen schon zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien, .Bergoglio war immer ein Mann, der. seinen Glauben ernst genommen und seine ignatianische Frömmigkeit gelebt hat", sagt der Tübinger Dog- matiker bei der Diskussion im Haus der Katholischen Kirche. Der emeritierte Professor ist überzeugt, dass Franziskus zwar noch lernt, das Terrain an der Kurie sondiert, aber auch sehr planmäßig vorgeht und seine Schritte gezielt setzt. Nach Einschätzung des 84-Jährigen wird das neue Kirchenoberhaupt künftig Bistümern und Gemeinden mehr Freiheiten gewähren und die Kontrollen durch Rom zurückfahren. Wie weit in der Vergangenheit die Gängelung ging, schildert Hünermann an einem eindrücklichen Beispiel. So habe einmal Bergoglio selbst ein Dokument der argentinischen . Bischofssynode erstellt nach Rom geschickt. Das Papier sei dann aber vom Vatikan an sage und schreibe 127 Stellen korrigiert worden.

Positiv wertet Hünermann, dass der neue Papst keine Karrieristen als Bischöfe wolle, sondern volksnahe Kleriker. Gleichzeitig warnt er allerdings vor der falschen Vorstellung, Franziskus arbeite ein bestimmtes Programm ab. Vielmehr frage der Jesuit sich jeden Tag, was Gott von ihm wolle und lebe so aus dem Heiligen Geist: "Daraus resultiert eine große Freiheit."

Auch Christian Weisner sieht den neuen Papst mit Wohlwollen. Der Sprecher der Kirchenvolksbewegung lobt den bescheidenen, gewinnenden Stil des 76-jährigen Pontifex, der keine roten Schuhe trägt, im Gästehaus wohnt und auf Prunk verzichtet. Solche Zeichen seien wichtig in einer Institution, die sonst ihre Bedeutung demonstriere.

Der Kirchenreformer glaubt gar, dass analog zum Arabischen Frühling ein "römiseher Frühling" anbrechen könnte. Der würde dann mehr Gleichberechtigung der Frauen, eine stärkere Mitsprache der Gläubigen und weniger Verbote bringen. Der Münchner Weisner rnahntjedoch zur Geduld: "Der Bewusstseinswandel braucht Zeit. Der Papst kann nichtr alles auf einmal richten."


Wie viel er schon bewegt, wie stark er Menschen bereits angerührt hat, das schildern der StZ- Romkorrespondent Paul Kreiner und die Franziskanerin Paulin Link. "Er hat uns eine Freude vermittelt an Armut, Keuschheit und Gehorsam", sagt die Generaloberin über ihr Treffen mit Franziskus im Vatikan. Der habe dabei deutlich gemacht, dass es in der Kirche nicht um Macht gehe, sondern•ums Dienen und Hinhören auf den Nächsten. "Wenn er dem Evangelium treu bleibt, kann er auch neue Wege finde", sagt die Frau vom Kloster Reute. Kreiner, der den Abend moderiert, spürt den Klimawandel, der mit dem Wechsel von Benedikt zu Franziskus einhergeht, hautnah. Mindestens zweimal die und es Woche erlebt er den Papst live. Er liest täglich die prägnanten Predigten und sieht, wie immer mehr Menschen auf den Petersplatz zu den Generalaudienzen strömen. Mittlerweile führe das regelmäßig zu Verkehrs staus: "So etwas hat es in den vergangenen zehn Jahren in Rom nicht gegeben."

Zuletzt geändert am 27­.06.2013