27.12.2013 n-tv
Staat und Kirche: Gute Gründe für eine Scheidung
"Es besteht keine Staatskirche", heißt es im Grundgesetz. Doch das stimmt nicht. Die großen Kirchen haben weiterhin eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft inne. Das schadet nicht nur der Republik, sondern auch den Religionsgemeinschaften.
Sie erwacht auf einer Parkbank in Köln und weiß nicht, wie sie dort hingekommen ist. Eine Party am Vorabend, eine Bushaltestelle, dann reißt die Erinnerung der 25-Jährigen ab. Und nun sitzt sie dort an einem kühlen Dezembernachmittag - müde, mit verschmutzten Kleidern und einem stechenden Schmerz im Unterleib. Wenig später wird sie erfahren, dass sie mit K.O.-Tropfen betäubt und vergewaltigt wurde.
Die Notärztin Irmgard Maiworm nimmt sich der jungen Frau an, erklärt ihr, was geschehen ist. Sie versucht, das Opfer einer Vergewaltigung für eine umfassende gynäkologische Untersuchung an eines der Krankenhäuser in der Nähe zu überweisen. Dann geschieht das Unfassbare: Erst weist das nahe St. Vinzenz-Hospital die Frau ab, danach die Heilig-Geist-Klinik. Maiworm zufolge mit derselben Begründung: Bei einer solchen Untersuchung müssten die Schwestern über die "Pille danach" aufklären und ein Rezept ausstellen. Das sei mit christlichem Gedankengut unvereinbar. Die Krankenhäuser führt der katholische Orden der "Cellentinen zur heiligen Maria." Die Katholische Kirche lehnt Abtreibungen ab.
Ein Jahr ist das nun her. Der Fall entfachte eine Debatte über den Einfluss der Kirchen im deutschen Sozialwesen, dann eine Debatte über den Einfluss der Kirche im Staat. Geändert hat sich nichts.
"Die christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände sind in vielen Bereichen unserer Gesellschaft unverzichtbar", heißt es im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. "Wir wollen die kirchlichen Dienste weiter unterstützen. Dabei achten wir die kirchliche Prägung der entsprechenden Einrichtungen." Die Parteien zementieren den Status der Kirche in der Gesellschaft. Dabei ist der Fall jener 25 Jahre alten Frau aus Köln nur einer von vielen guten Gründen, diesen Status infrage zu stellen.
Wachsende Entfremdung, steigender Einfluss
Im Grundgesetz heißt es im Artikel 140: "Es besteht keine Staatskirche". Doch tatsächlich ist der Einfluss im Staat so groß, wie er seit der Gründung der Bundesrepublik nicht mehr war. Und das, obwohl sich immer mehr Menschen von der Kirche abwenden.
In den 1950-Jahren waren noch mehr als 95 Prozent der Deutschen Mitglied in einer der großen Kirchen. Heute sind es kaum 60 Prozent. Trotzdem stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der zivilen Angestellten in evangelischen und katholischen Einrichtungen von rund 130.000 auf mehr als eine Million. Weil der Staat Geld sparen wollte, trat er im gewaltigen Ausmaß seine Aufgaben im Sozialwesen an die Kirchen ab. Heute betreiben sie jedes dritte Krankenhaus. Hinzu kommen etliche Kindertagesstätten und Altenheime.
Der Staat billigt ihnen dabei umfangreiche Sonderrechte zu. Dazu gehört das Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht, das sich aus dem Grundgesetz ableitet. Und so bestimmen vatikanischen Moralvorstellungen heute nicht nur, wer in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft behandelt wird, sondern auch, wer dort arbeiten darf. Immer wieder klagten Mitarbeiter über Kündigungen, weil sie sich scheiden ließen, aus der Kirche ausgetreten waren oder sich zu ihrer Homosexualität bekannt hatten.
Ein Jahr nach dem Kölner Vergewaltigungsfall stößt der Einfluss der Kirche auf das Sozialwesen aber kaum noch auf Kritik. In der Weihnachtszeit heißt nun wieder: Die Kirchen tun so viel Gutes. Und das stimmt so auch - allerdings mit einer Einschränkung. Und auch diese Einschränkung macht deutlich, wie eng verbunden Staat und Kirche noch immer sind.
Der Politologe und Publizist Carsten Frerk rechnete kürzlich vor, wie hoch der Anteil ist, den die Kirchen an den Kosten ihres Einsatzes im Sozialwesen tragen. "Die Hilfswerke Caritas und Diakonie haben eine Kirchenquote von zwei Prozent", sagte er dem Radiosender Deutsche Welle. Das mögen Extrembeispiele sein, deutlich jenseits der 10-Prozent-Marke liegen die Anteile, die die Kirchen für ihre guten Taten aufbringen, aber eher selten.
Die Kirchen bekommen Steuergeld, um staatliche Aufgaben zu übernehmen. Trotzdem diktieren sie in Eigenregie, wie sie diese Aufgaben erfüllen. Und die Verflechtungen reichen noch weit über den Einfluss auf das Sozialwesen hinaus.
Millionen für Bischofssitze und Priestergehälter
2012 zahlte der Staat 460 Millionen Euro an die beiden großen Kirchen - für die Gehälter von Priestern und Bischöfen. Auch für Unterkünfte und Ausstattung der Würdenträger kommt er indirekt auf. Die Zahlungen gehen auf Jahrhunderte alte Verträge zurück. Im Zuge der Säkularisierung versprach die Politik dem Vatikan, ihn mit sogenannten Dotationen für Enteignungen zu entschädigen. Um sie zu begleichen, gibt es seit jeher zwei Möglichkeiten: eine Einmalzahlung oder eine zeitlich unbegrenzte jährliche Ausstattung.
Schon Anfang des 19. Jahrhunderts gab es Pläne, die Kirchen in einem Zug auszubezahlen. Denn langfristig würde das Milliarden sparen. Doch die Politik wagte es nie, diesen Schritt in die Tat umzusetzen. Trotz der Exzesse des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst, der seinen Amtssitz unter anderem mit einer freistehenden Badewanne für 15.000 Euro und einem Konferenztisch für 25.000 Euro ausstattete, änderte sich das auch mit der Großen Koalition nicht. Das Wort "Dotation" kommt im Regierungsvertrag von Union und SPD nicht vor.
Gründe für die Zurückhaltung der Politik, in der einige Rechtsexperten einen Verfassungsbruch erkennen, gibt es viele: Auch die Mitglieder der Kirchen sind Wähler und der Staat müsste seinen Bürgern kurzfristig große Summen abverlangen, um die Ansprüche der Kirchen auf einen Schlag zu bedienen. Also zahlt und zahlt er. "Es besteht keine Staatskirche" - dieser grundgesetzliche Anspruch spielt dabei keine Rolle. Doch das müsste er. Schließlich ist die Politik auch all jenen verpflichtet, die sich von den Kirchen schon abgewendet haben.
Aber nicht nur die Politik, auch die Kirchen verspielen so Glaubwürdigkeit. Die katholische Reformbewegung "Wir Sind Kirche" weist auf ihrer Webseite zurückhaltend, aber ausdrücklich auf das Verhältnis des "besonderen öffentlich-rechtlichen Charakters der Kirchen" und der sinkenden Zahl von Gottesdienstbesuchen und einer "allgemeinen Entkirchlichung des Lebensstils" hin.
Für die Kirchen stellt sich daher zwei Fragen: Ist es anständig, staatliche Privilegien zu genießen, wenn sich immer mehr Bürger dieses Staates von den Moralvorstellungen der Glaubensgemeinschaften abwenden? Und: Wären die Kirchen nicht überzeugender, wenn sie ihre Werte in einer öffentlichen Debatte auf den Prüfstand stellen würde, statt sie durchzusetzen, nur weil sie es können?
http://www.n-tv.de/politik/Gute-Gruende-fuer-eine-Scheidung-article11954496.html
Zuletzt geändert am 04.01.2014