19.11.2018 - Münchner Merkur
„Wir haben versagt!“
Klare Worte von Kardinal Reinhard Marx: Im Gottesdienst zum Gedenktag an Opfer sexueller Gewalt, spricht der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz von der „Stunde der· Wahrheit“ für die Kirche und von einem „Wendepunkt“. Besucher des Gottesdiensts werden die „kraftvolle Predigt“ später loben, und bleiben doch skeptisch.
VON BEATRICE OSSBERGER
München - Die Mittelreihen sind locker gefüllt, die seitlichen Bänke aber bleiben leer. 250, vielleicht 300 Menschen sind gestern zu dem Gottesdienst im Münchner Liebfrauendom gekommen, um erstmalig den Gedenktag für Missbrauchsopfer zu begehen. Papst Franziskus hatte diesen Gedenktag angeregt, die deutschen Bischöfe haben daraufhin den 18. November vorgeschlagen, dem europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch.
„Wir sind uns unserer Schuld bewusst“, sagte der Münchner Kardinal Reinhard Marx bei der Begrüßung, und dass er diesen Gottesdienst nicht als „Schlussstrich“ verstanden wollen wisse. „Das ist ein Weckruf, vor dem Angesicht Gottes hinzuschauen, was auch in der Kirche geschieht.“
Möglicherweise antwortete Marx mit diesen Worten auf die Kritik, die bei der Einführung des Gedenktages laut geworden war. Verschiedene Initiativen hatten sich gegen diese Form des Gedenkens ausgesprochen, unter anderem der Opferverein „Eckiger Tisch“. Es sei nicht angemessen, Missbrauch als historisches Ereignis zu behandeln, hatte der Verein erklärt. Viele wichtiger senen Hilfe und Entschädigung.
Explizit erwähnt Marx diese Proteste nicht. Er betont aber mehrfach, dass die Aufarbeitung der Kirche noch nicht abgeschlossen sei. den Opfern spricht er seinen Dank aus, dass sie sich geäußert haben trotz der damit für sie verbundenen Schmerzen. Den Medien gelte Dank dafür, „dass die Aufmerksamkeit gewachsen ist für dieses manchmal verschwiegene, verborgene, verheimlichte Unrecht.“
Die Rolle der katholischen Kirche im Zuge der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs beschönigt Marx nicht. „Wir haben versagt“, sagt er. „Wir waren in einem Verblendungszusammenhang: nicht hinsehen wollen, nicht wahrhaben wollen, was geschieht, es kleinreden, es nicht anhören, all das ist immer wieder geschehen. Und damit muss Schluss sein.“ Auch den Missbrauch der Macht innerhalb der Kirche, und explizit der geistlichen Macht, spricht Marx an.
Für die Kirche sei diese Zeit die „Stunde der Wahrheit“, denn endlich werde offenbar, was geschehen sei, und es werde gesucht nach Heilung, Prävention und Überwindung dieser schrecklichen Zeit.
In der Zukunft, erklärt Marx, müsse die Präventionsarbeit noch intensiver werden. Es gehe auch darum, „dass wir lernen müssen, anders Kirche zu sein, transparenter, offener, nicht die einen gegen die anderen, sondem im Miteinander“.
Marx Worte hallen nach. ;,Kein anderer hoher Würdenträger der Kirche hat bisher so deutlich das Unrecht der Kirche angesprochen“, sagt Annemarie Altmann nach dem Gottesdienst. „Das hat mich positiv überrascht.“ Auch Heribert Schneider ist von der „kraftvollen Predigt“ begeistert, schränkt aber ein. „Ich glaube Kardinal Marx, dass er es ernst meint mit einem Neuanfang .. Aber dafür müsste sich die Kirche ändern, Hierarchien müssten abgebaut werden. Und hier sind die, Widerstände doch noch sehr groß.“
Ähnlich äußert sich auch Claudia Klein. „Dieser Gottesdienst ist ein wichtiger Schritt“, sagt sie. „Aber noch vermisse ich die Reform, die sicherstellt, dass sich ein solcher Skandal nicht wiederholen kann.“
Christian Weisner von der Initiative „Wir sind Kirche“, der auch am Gottesdienst teilnahm, versteht die Skepsis gut, teilt er sie doch selbst. Der Kardinal verspreche Transparenz, sagt er, aber die Aufarbeitung des Skandals mit mindestens 3677 betroffenen Kindern sei halbherzig. Beispielsweise würden kirchliche Akten immer noch nicht für die Ermittlungen freigegeben. .Marx hat in seiner Predigt gesagt, dass die Kirche an ihrem Handeln gemessen werde“, sagte Weisner. „Dann soll die Kirche jetzt ihren Worten Taten folgen lassen.“
Zuletzt geändert am 19.11.2018