10.12.2018 - Deutschlandfunk Kultur (Zeitfragen)
Religionsgemeinschaften und Demokratie - Der Kampf um Teilhabe
Laut deutscher Verfassung haben Religionsgemeinschaften das Selbstbestimmungsrecht. Bis heute sind ihre Strukturen konservativ und patriarchal. Doch immer mehr Initiativen kämpfen für einen Mentalitätswandel – nicht nur bei der Geschlechtergerechtigkeit.
„Wir brauchen einen Bewusstseinswandel, bevor wir über Quoten sprechen.“
„Es muss nur eben ein Wille zu Pluralismus existieren.“
„Diese ganzen Ordinariatsstellen könnten viel stärker mit Frauen besetzt werden – auch Entscheidungsstellen.“
„Das bedeutet, dass immer noch eine Moscheegemeinde sehr patriarchal dominiert ist.“
„Es gibt vor allem einen Aufstand gegen Frauen, wenn die sich an all diesen traditionellen Ämtern beteiligen wollen. Es gibt sehr häufig die Vorstellung: Im religiösen Bereich, in der Synagoge soll alles so sein wie es zu Zeiten der Großeltern war.“
Die Errungenschaften der Demokratie heißen Gleichstellung von Mann und Frau. Meinungsfreiheit. Mitbestimmung oder auch Homo-Ehe. Doch was davon realisieren Religionsgemeinschaften in ihren eigenen Reihen? In Deutschland können sie sich frei entfalten, nutzen viele Vorteile, die ihnen der Staat gewährt. Und nicht zuletzt Steuervorteile.
Der Staat betrachtet sich als säkular und will sich neutral verhalten.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in Artikel 140, ist geregelt, welche Rechte Religionsgemeinschaften haben.
„Danach haben die Religionsgemeinschaften das Selbstbestimmungsrecht. Jede Religionsgemeinschaft, heißt es da, ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“
…sagt Stefan Muckel, Staatskirchenrechtler der Universität Köln.
So kommt es, dass einige Religionsgemeinschaften mitunter eine ganz eigene Dynamik entwickelt haben.
Die Sonderrechte der Kirchen – Beispiel Universität
Der Staat finanziert die Ausbildung der Gelehrten und Geistlichen an den staatlichen Universitäten, bislang zumindest in den evangelischen und katholischen Fakultäten. Für Muslime gibt es noch keine Imam-Ausbildung an deutschen Universitäten. Im Judentum ist man da weiter, es gibt inzwischen Rabbinerseminare. Doch obwohl an Universitäten die Freiheit der Lehre hochgehalten wird, greifen vor allem die Kirchen regelmäßig ein, um etwa unliebsame Professoren auf Lehrstühlen zu verhindern.
„Das ist vollkommen richtig. Kann man nichts machen! Damit meine ich, aus Sicht des staatlichen Rechts. Was man machen kann, spielt sich innerhalb der Kirche ab. Also da gibt es einen eingeschränkten Rechtsschutz.“
Was das Arbeitsrecht betrifft – die Kirchen sind einer der größten Beschäftigungsträger –, da haben sie einen Sonderweg erhalten, den sogenannten dritten Weg. Arbeitgeber und Arbeitnehmer bilden demnach eine Dienstgemeinschaft, in der unter anderem ein eingeschränktes Streikrecht und eigene Tarifverträge gelten. Und vor der Meinungsfreiheit steht auch die Loyalitätspflicht zur Kirche.
Zur Erinnerung: Die katholische Theologin Uta Ranke-Heinemann verlor 1987 ihren Lehrstuhl, weil sie die biologische Jungfrauengeburt Mariens, der Mutter von Jesus, in Zweifel zog. Sie plädierte für eine theologische, symbolhafte Auslegung des Dogmas. Das reichte, damit der Bischof ihr die Lehrerlaubnis entzog.
Vor kurzem wurde dem Direktor der katholischen Hochschule in Sankt Georgen in Frankfurt am Main die Unbedenklichkeitsbestätigung von Rom verweigert, das ‚Nihil Obstat‘. Der Grund: Der Direktor Ansgar Wucherpfennig hatte sich für die Segnung homosexueller Paare ausgesprochen. Vor dem Gesetz dürfen Homosexuelle inzwischen heiraten, nur in der katholischen Kirche nicht. Dort gilt Homosexualität immer noch als Sünde. Nach einer kurzen, aber heftigen Empörungswelle fand Rom am Ende einen Kompromiss. Wohl um weiteren Schaden von der Kirche abzuwenden.
„Die katholische Kirche ist keine Demokratie“
Der Staat garantiert Religionsgesellschaften die Glaubensfreiheit. Doch wie demokratisch die Kirchen dann selbst agieren, in wieweit sie ihr Kirchenvolk mitbestimmen lassen, ist den Religionsgemeinschaften selbst überlassen. Von der Organisationsstruktur her sind die Institutionen oft weit davon entfernt, ihre Gläubigen an der Macht zu beteiligen.
„Die katholische Kirche ist keine Demokratie, sondern ist eine absolute Monarchie. Und es hängt sehr stark vom Naturell des Papstes ab, wie er diese absolute Monarchie ausgestaltet.“
...sagt die Journalistin Christiane Florin, die sich dem „Weiberaufstand“ in der katholischen Kirche verschrieben hat.
So zumindest heißt der Titel ihres jüngsten Buchs. Florin kritisiert, dass Menschen von der Basis überhaupt nicht in Ämterentscheidungen eingebunden seien: welchen Pfarrer die Gemeinde erhält, welcher Bischof im Bistum regiert. Außerdem seien 50 Prozent der Gläubigen, eben die Frauen, qua Geschlecht von Weiheämtern wie Priestertum oder Diakonat ausgeschlossen. Anders als in einer Demokratie würden die geistlichen Ämter auch nicht auf Zeit vergeben. Sie kritisiert:
„Das ist ja in der Demokratie doch eine sehr starke Kontrollmöglichkeit des Einzelnen oder des Wahlberechtigten, dass man den, mit dem man nicht zufrieden ist, wieder abwählen kann. Der Papst, die Bischöfe, aber auch Pfarrer, die beziehen ihre Legitimation nicht aus einer demokratischen Wahl. Natürlich wird ein Papst gewählt oder auch ein Bischof – aber es ist nicht das Kirchenvolk, dass sie wählt, sondern es ist ein Wahlgremium.“
Zu wenig Machtkontrolle in der katholischen Kirche
Die entscheidende Legitimation für die Ämtervergabe in der katholischen Kirche sei die Berufung eines Mannes von Gott.
„Also etwas, was man sehr schlecht prüfen und kontrollieren kann. Also das ist auf der anderen Seite vollkommen unverständlich. Ich hab ja Politikwissenschaft studiert, und da legt man schon Wert drauf, dass Macht auch kontrolliert werden kann und dass sie auch befristet vergeben wird. Und dass sich derjenige, der Macht hat, auch verantworten muss. Das finden sie in der katholischen Kirche wirklich nur in sehr geringem Maße ausgeprägt.“
Was bei dem sexuellen Missbrauchsskandal der katholischen Kirche und der im September 2018 vorgestellten Studie offensichtlich wurde: Keiner der deutschen Bischöfe fühlte sich verantwortlich dafür, dass Priester über Jahrzehnte nicht aus dem Dienst entfernt worden sind, nachdem ihnen sexuelle Übergriffe vorgeworfen worden sind.
Immer wieder gärt es an der Basis. Den Unmut an ihrer Kirche haben Frauen auf zahlreichen Katholikentagen thematisiert. Die Benachteiligung von Frauen in der Zivilgesellschaft und im Beruf ist derzeit einer der größten Aufreger in den sozialen Medien: Stichwort #metoo und Geschlechtergerechtigkeit.
„Grundsätzlich ist es in der katholischen Kirche so, dass Frauen nicht ordiniert werden können als Priesterinnen, Und damit setzt sich auch das ganze Elend fort: In vielen Positionen da sitzen üblicherweise Priester, und schon da kommt dann eine Frau gar nicht hin. Da könnte man ja schon mal einen Schritt machen. Aber der nächste Schritt wäre natürlich, dass auch Frauen zur Ordination zugelassen werden.“
Sigrid Grabmeier engagiert sich seit mehr als 20 Jahren in der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche.
Der Verein möchte im nächsten Jahr eine Eingabe an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags stellen. Das Ziel: Der Staat solle künftig die im Grundgesetz verbriefte Gleichberechtigung von Frauen und Männern auch in Religionsgemeinschaften in den Fokus stellen.
Initiative Wir sind Kirche kämpft für Verfassungsänderung
Die Initiative möchte eine Diskussion anstoßen und eine Änderung des Verfassungsgesetzes einleiten. Frauen sollen in Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht mehr diskriminiert werden dürfen.
„Der Staat hat ja auch gegenüber seinen Bürgern eine Schutzpflicht, und da wäre schon mal was zu erreichen. Zum Beispiel in den Ordinariaten könnten diese ganzen Ordinariatsstellen viel stärker mit Frauen besetzt werden – auch Entscheidungsstellen. Ich kann mir ganz gut eine Generalvikarin vorstellen.“
Ordinariate sind Verwaltungsinstanzen der katholischen Kirche. Bischöfe sitzen in jedem Bistum an der Spitze. Grabmeier sagt, dass der Ausschluss von Frauen aus geistlichen und vielen weltlichen Ämtern vom Kirchenvolk generell nicht mehr verstanden werde. Viele Menschen wenden sich daher von der Kirche ab.
Sigrid Grabmeier von der katholischen Laien-Initiative „Wir sind Kirche“ (picture alliance/dpa / Armin Weigel)
„Ich kenne inzwischen so viele Frauen, die sagen: Du, ich brauch das alles nicht mehr. Ich habe die Schnauze voll. Ich brauch die Kirche nicht mehr, um mich zu engagieren.“
Die Folgen sind gravierend. Während die Männer in vielen kirchlichen Gremien in der Überzahl seien, liege die Sozialarbeit in vielen Gemeinden brach.
Frauen sind in Moscheegemeinden ein Randphänomen
Auch in vielen Moscheegemeinden sitzen überwiegend Männer in den Gremien.
„Die Frauenfrage ist eine ganz zentrale Frage. Wenn man mal schaut über die 2000 Moscheegemeinden, die es in Deutschland gibt: Wie viele Frauen sind in den Vorständen? Dann werden Sie sehen, das ist ein absolutes Randphänomen.“
Rauf Ceylan, Professor für gegenwartsbezogene Islamforschung an der Universität Osnabrück.
Nach seiner Einschätzung engagierten sich zwar viele Frauen in den Moscheen, schafften es aber nicht in die Leitungsgremien. Die Gründe liegen in der Geschichte. Viele Moscheen wurden vor rund 30 Jahren als Provisorien für ledige Männer gegründet, für Gastarbeiter, die auf Zeit in Deutschland arbeiteten. Und die alten Vorstände hätten immer noch großen Einfluss, selbst wenn sie unter Umständen gar nicht mehr in den Gremien säßen. Doch dieser Pionierbonus schmelze langsam dahin, sagt der Religionssoziologe.
„Wir brauchen einen Bewusstseinswandel, bevor wir über Quoten sprechen. Also um ein Problem zu lösen, muss man erst mal ein Problem erkennen.“
„Es gab auch weitgehend einen Generationenwechsel, aber es gab keinen Mentalitätswechsel. Und das ist der Punkt, wo ich sage, da fangen eigentlich auch die Probleme an.“
Engin Karahan, Jurist und ehemaliger Vizegeneralsekretär von Milli Görüs, jetzt im Beirat der Alhambra Gesellschaft.
„Das Problem ist nicht, dass ältere Generationen nicht das Zepter aus der Hand lassen, sondern das Zepter meistens nur an diejenigen weitergeben, die dann auch die bisherige Art und Weise, diese Gemeinde leiten und auch Entscheidungen treffen, genauso treffen, wie sie sie treffen würden. … Was bedeutet das? Dass eine Moscheegemeinde immer noch sehr patriarchal dominiert ist.“
Mittlerweile haben die Moscheeverbände das auch gemerkt und Abteilungen für Frauen und Familie gegründet. Darin sieht Karahan aber eine Sackgasse.
„Ich bin grundsätzlich der Meinung, dort wo es eine Frauenabteilung gibt, gibt es keine Gleichberechtigung in dem Verband. Weil das oftmals bedeutet, als Frau darfst du dich in der Frauenabteilung austoben, aber in den wirklich wichtigen Bereichen, da solltest du dann doch keine Rolle spielen.“
Homo-Ehe – in traditionellen Moscheen derzeit undenkbar
Dass es auch anders geht, zeigt beispielsweise der Liberal-Islamische Bund. Der Verein hatte sich im Jahr 2010 gegründet und sich der Geschlechtergerechtigkeit verschrieben.
„Wir haben Frauenüberschuss nicht nur im Vorstand sondern tatsächlich. Wir werden in der Öffentlichkeit tatsächlich gesehen als die weiblichen Repräsentanten des Islams in Deutschland. Also man sieht das auf öffentlichen Veranstaltungen, wenn die anderen Verbände zugegen sind: Es sind halt selten Frauen tatsächlich dabei.“
Odette Yilmaz, die Vorstandsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, verweist darauf, dass in ihrem Verein die Basisdemokratie groß geschrieben werde. Alle zwei Jahre werde der Vorstand neu gewählt. Stimmberechtigt seien alle muslimischen Mitglieder. Was hier anders laufe als in anderen Verbänden? Es gebe keine Geschlechtertrennung.
„Das war eigentlich sekundär ein Grund dafür, warum ich diesen Weg gegangen bin, zum Liberal-Islamischen Bund. Natürlich ist das Prominenteste, was einem am stärksten ins Auge fällt, die Tatsache: Dürfen Frauen vorbeten, dürfen Frauen theologische Autorität gegenüber Männern sein.“
Auch in einer anderen Frage steht der Verein bislang allein in der Moscheen-Verbandslandschaft. Der Liberal-Islamische Bund begrüßt explizit die Homo-Ehe und heißt damit nicht nur heterosexuelle, sondern auch homosexuelle Muslime in seinen Reihen willkommen. Eine Position, die bislang von traditionellen Moscheevereinen nicht vertreten wird. Einen kirchlichen Segen zu bekommen, wie etwa in zahlreichen evangelischen Kirchen, ist für Homosexuelle in den traditionellen Moscheen derzeit undenkbar.
„Die Verbände sind im Grunde genommen konservativ-orthodox einzustufen. Es wird schwierig sein, innerhalb der Gemeinden Homosexualität zu thematisieren oder homosexuelle Imame zu haben. Das gleiche gilt aber auch, ob Frauen Imame werden können. Also da wird sich kurz- bis mittelfristig nichts ändern.“
Diskussionsforum für in Deutschland beheimatete Muslime
Ein weiterer muslimischer Player hat sich vor einem Jahr gegründet: Die Alhambra Gesellschaft. Sie ist eher dem konservativen Spektrum zuzuordnen und strebt an, politischer Bildungsträger zu werden. Zu den Gründungsmitgliedern zählen Ex-Funktionäre aus dem Spektrum der beiden großen konservativen Dachverbände, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, kurz Ditib, und der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, kurz IGMG.
Ditib ist eng mit dem türkischen Staat verflochten. Die türkische Religionsbehörde schickt den Ditib-Moscheen in Deutschland für jeweils drei bis fünf Jahre ihre Imame, die türkische Staatsbeamte sind. Das wichtigste: Ditib bezahlt die Imame auch.
Die Alhambra Gesellschaft nun versteht sich als Diskussionsforum für Muslime, die sich in Deutschland beheimatet sehen. Die Gesellschaft kritisierte zuletzt in einem Freitagswort die Ausgrenzung von Homosexuellen in den traditionellen Moscheen. Beobachter glauben, es sei ein Versuch, den Liberalen das Wasser abzugraben.
„Der Grund, warum wir dieses Freitagswort verfasst haben, war auch der Hintergrund, dass wir der Meinung sind, dass es dort keinen gerechten Umgang mit diesen Menschen gibt. Dass immer noch gewisse Abgrenzung, Ausgrenzung da ist, oftmals das Thema auch tabuisiert wird.“
Ein wichtiger Schritt, den Konservative als Anbiederung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft werteten. Die Aussicht auf gemeinsames Beten von Männern und Frauen sieht Karahan dann wieder kritisch. Die Art und Weise, wie Gebete verrichtet würden, sei „überzeitlich“. Mit anderen Worten: nicht antastbar.
Ehrenamtliche verzweifelt gesucht
Viele Religionsgemeinschaften wünschen sich mehr freiwilliges Engagement ihrer Mitglieder. Es ist der Kostendruck, unter dem auch die Kirchen stehen. Die Gemeinden der evangelischen Kirche zum Beispiel suchen händeringend Ehrenamtliche.
Uwe-Karsten Plisch, Theologischer Referent des Dachverbands der evangelischen Hochschulgemeinden in Hannover. Er ist auch Sprecher der „Initiative Kirche von Unten“.
„Im Grunde muss da auch ein Haltungswechsel stattfinden, Mentalitätswechsel stattfinden. Eben von der Betreuungskirche weg zur Beteiligungskirche. Man kann von Betreuten nicht erwarten, dass sie ganz plötzlich anfangen, sich zu beteiligen. Das wäre ein Kulturwandel, der da stattfinden muss.“
Dabei schauten viele von außen ganz neidisch auf die synodalen Strukturen der evangelischen Kirchen, besonders die Katholiken.
Die Beteiligung von Nicht-Kirchlichen Mitarbeitern in der kirchlichen Selbstverwaltung, die werde aber immer dünner, je höher die Synode angesiedelt sei. Und man bräuchte Jahrzehnte, um oben anzukommen. Das schafften überwiegend Kirchenangestellte.
„Also man hat eine hohe Pastorendichte in den Leitungsgremien, und das ist ein Teil von Milieu-Verengung. Und dann dünnt sich das so wie im Bundestag auch nochmal aus auf bestimmte Berufsgruppen hin. also hauptamtliche Kirchenmitarbeiter, auch Juristen – so ähnlich wie im Bundestag, wo sie auch überdurchschnittlich viele Juristen oder Politologen haben – das die Allgemeinheit gar nicht abbildet.“
Die Islamverbände hingegen existieren ja erst seit rund 30 Jahren in Deutschland. Lange wollten sie nur als Dienstleister für Moscheen und Teestuben auftreten. Der Religionssoziologe Rauf Ceylan hält den Wandel der Islam-Verbände aber für unumgänglich, schon weil die Verbände den Körperschaftsstatus anstrebten und Partner für den Religionsunterricht an Schulen werden wollen. Neue Strukturen müssten erarbeitet werden.
„Nur, das muss man wissen, dieser Prozess ist sehr störanfällig. Im Grunde genommen war das zum Beispiel bei den türkischen Muslimen der Fall. Sie waren nicht mehr eine Problemgruppe, wenn man das so bezeichnen darf, galten als gut integriert.
Das Problem ist aber, wenn sie Strukturen in Deutschland haben, die eng verflochten sind mit Herkunftsorganisationen. Dann haben wir das Beispiel Tayyip Erdogans AKP…, dass sich dann Probleme aus der Türkei hier in Deutschland widerspiegeln. Das führt immer wieder zu Re-Ethnisierungsprozessen. Das heißt, auch die dritte Generation, die im Grunde genommen längst sozial entfremdet ist von ihren Herkunftsländern, beginnt mit einer Art symbolischen Identifikation. Plötzlich ist das Türkischsein wieder wichtig und richtig, auch wenn sie selbst nicht mehr richtig türkisch sprechen können. Aber symbolhaft oder symbolträchtig bekennen sie sich zu diesem Land.“
„Wir brauchen innerhalb der Gemeinden wirklich kritische Geister“
Früher oder später müsse sich der Ditib-Verband vom Einfluss der türkischen Regierung lösen, ergänzt der Staatsrechtler Stefan Muckel. Die Religionsbehörde Diyanet sei eben keine Religionsgemeinschaft, sondern ein Teil des türkischen Staates. Vieles hänge auch davon ab, ob ein selbstkritischer Diskurs in Gang komme, sagt Ceylan.
„Wir brauchen Leute auch außerhalb der Verbände, die kritisieren von außen aus der Community heraus. Und wir brauchen innerhalb der Gemeinden wirklich kritische Geister, die auch von innen versuchen, das zu ändern. Wenn das so ist, dann bin ich zuversichtlich.“
Die islamischen Religionsverbände könnten sich in Zukunft ähnlich entwickeln wie das Judentum. Von den konservativ-orthodoxen Richtungen könnten sich weitere liberale Verbände und Gemeinden abspalten, sagt der Soziologe. Die Kunst werde sein, diese Pluralität als Segen zu sehen.
Die jüdischen Religionsverbände sind in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts bereits anerkannt. Sie erhalten Unterhalt für den Synagogenbetrieb von den Bundesländern. Der Struktur nach sind es Einheitsgemeinden, wo sich orthodoxe und liberale Gemeinden die Räumlichkeiten teilen. Das Konzept stammt noch aus der Zeit vor der Shoah, aus der Weimarer Republik und ist so beibehalten worden. Meist steht der Einheitsgemeinde ein orthodoxer Rabbiner vor. Ob die Zusammenarbeit klappt, hängt von den Gemeinden ab.
„Es muss nur ein Wille zum Pluralismus existieren. Und das ist eben eine menschliche Angelegenheit des Vorstandes, ob das so klappt.“
Sagte die liberale Rabbinerin Ulrike Offenberg aus Berlin. Die Struktur der Einheitsgemeinde habe eben Vor- und Nachteile.
„Aber ich finde es wichtig, dass es für alle verschiedenen Ausdrücke des Zugangs zum Judentum auch Arbeitsmöglichkeiten gibt, weil nur das ist dann wirklich zeitgemäß.“
Aufgrund permanenter Querelen haben sich einige liberale Gemeinden dann doch abgespalten. In Hamburg wurde die Geldverteilung sogar vor Gericht verhandelt. Im Grunde sind es Fragen der Liturgie, über die so heftig gestritten wird. Die religiösen Texte und der Kanon sind weitgehend gleich. Ein Thema, das auch auf muslimische Gemeinden zukommen würde.
Rabbinerinnen werden von den Orthodoxen nicht anerkannt
Nach orthodoxem jüdischen Ritus müssen mindestens zehn Männer zusammen kommen, um einen Gottesdienst feiern zu können. In der liberalen Gemeinde werden auch die Frauen mitgezählt. Ja, es gibt sogar Rabbinerinnen und Kantorinnen.
„Das ist der Unterschied: In der Orthodoxie sagt man, dass alle religiösen Funktionen nur den Männern vorbehalten sind. Und Frauen haben im Gottesdienst überhaupt keine Funktion. Ob sie kommen oder nicht, ist im Prinzip egal. Es zählt nur, dass zehn Männer da sind. Die Frauen sitzen oben auf der Empore oder hinten der Mechiza, hinter einer Gardinenwand. Und werden nicht gesehen und sehen schlecht und hören selber schlecht, was da eigentlich vorne passiert. Aber da vorne sind nur die Männer im Gange. Lesen die Thora und ein Vorbeter und all das. Und im liberalen Gottesdienst ist die Grundprämisse, dass man sagt: Männer und Frauen sind gleichberechtigt, gleich verpflichtet. Und dann sind alle Funktionen…, stehen allen offen.“
Hinter dem Liturgiestreit steht nicht nur der Ausschluss der Frauen aus dem Kultus, sondern eine Rollenzuweisung der Frauen zu Familie und Haushalt. Anders als in der katholischen Kirche mit dem Priesteramt ist das Rabbineramt aber kein Weiheamt. Rabbiner sind Gelehrte und leiten eine Gemeinde, sie sprechen auch Recht.
Frauen werden in den liberalen Gemeinden als Rabbinerinnen angestellt, aber von den Orthodoxen nicht anerkannt. Mittlerweile gibt es in manchen orthodoxen Gemeinden auch ein Aufbegehren der Frauen, in den USA und in Israel beispielsweise. Dort weht den Frauen ein scharfer Wind entgegen.
„Es gibt sehr häufig die Vorstellung, dass im religiösen Bereich, in der Synagoge soll alles so sein wie es zu Zeiten der Großeltern war. Also so eine unbestimmte Sehnsucht, Nostalgie nach einem Früher, das auch früher gar nicht so romantisch war. Aber es ist eine Projektion von Ängsten, von Unsicherheiten aus der Gegenwart auf ein veraltetes Vergangenheitsmodell.“
Wie bei den liberalen Muslimen müssen die liberalen Jüdinnen und Juden ihr Abweichen von der orthodoxen Praxis erklären – mit Bezug auf die Quellen. Also eine theologische Erklärung liefern – das sei eben anstrengend.
„Hier in Deutschland trifft das ganz bestimmt zu. Aber noch viel mehr trifft es zu für die jüdischen Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion, die in Fragen der Religion auch das Bild der russisch-orthodoxen Kirche im Kopf haben. Also jemand, der da ein Amt wahrnimmt: Das ist einer im schönen Ornat, irgendwie visuell wirklich erkennbar, und der schwenkt da vorne ein Fässchen. Er macht den Gottesdienst, und ich sitze nur da und schaue zu.“
Tendenz, die Ältesten nicht zu kritisieren
Wer im orthodoxen Glauben lebe, habe wenig Klärungsbedarf. Ähnlich wie in den Moscheen würden die jüdischen Gemeindeleitungen oder Rabbiner wenig kritisiert. Die Gründe dafür liegen vielleicht gar nicht so weit auseinander.
In Moscheeverbänden zolle man häufig der Autorität Respekt und vermeide jegliche Kritik, sagt Engin Karahan. Auch in jüdischen Gemeinden gibt es die Tendenz die Ältesten nicht zu kritisieren, bestätigt Offenberg, weil sie zum Teil Überlebende der Shoah seien und der Verfolgung der Nazis ausgesetzt gewesen seien. Mit dieser Haltung könnten Teilhabeprozesse bewusst oder unbewusst ausgehebelt werden.
Was die Demokratie erlaubt, muss von Religionsgemeinschaften nicht geteilt werden
Ob Frauen nun Priesterin, Imamin oder Rabbinerin werden dürfen oder nicht, ob sie gemeinsam mit Männern beten dürfen oder nicht, ob die Gemeinde Homosexuelle ausgrenzt oder nicht, ob Frauen oder Homosexuelle Gemeindevorsteher oder Hochschullehrer werden dürfen oder nicht – all das gehört nach dem Verfassungsrecht zum Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Kirchenstaatsrechtler Stefan Muckel sagt:
„Rein juristisch betrachtet, kann man ja persönlich für die eine oder andere Sache durchaus erhebliche Sympathie haben. Trotzdem kann keiner die Religionsgemeinschaft dazu zwingen. Das hängt nicht damit zusammen, dass die Religionsgemeinschaft über dem Staat steht – selbstverständlich hat der Staat die Rechtsmacht. Es ist ein Gewaltmonopol hier, und wir leben nicht mehr in den Zeiten, in denen die Kirche in irgendeiner staatskirchlichen Weise mitzubestimmen hat.“
Die Kirchen und Religionsgemeinschaften müssten aber deswegen keinesfalls demokratisch aufgestellt sein. Teilhabe, aber auch Kritik an Glaubensinhalten müssten die Mitglieder innerhalb ihrer Organisation selbst anstrengen. Ansonsten gilt: Man könne aus der Religionsgemeinschaft austreten. Der Staat sorge dafür, dass ihm keine Nachteile entstünden, er auch als Konfessionsloser geschützt sei.
Wie verhält es sich aber damit, dass Kirchen beispielsweise sexuellen Missbrauch jahrzehntelang vertuschen konnten, ohne dass die Staatsanwaltschaft zugegriffen hat? Wenn mehr Frauen in Personalverantwortung und geistlichen Ämtern wären, dann hätte es auch weniger sexuelle Übergriffe in Folge gegeben, sagt Sigrid Grabmeier von der katholischen Laienbewegung Wir sind Kirche:
„Das ist der eine Punkt, dass natürlich oft Freundschaften bestehen zwischen Priestern und verantwortlichen Personen in den Ordinariaten. Auf der anderen Seite ist es auch so: Man wollte auch immer die Kirche halt schützen. Und hatte eine ganz komische Vorstellung davon, in dem man sagte, das darf alles nicht öffentlich werden, und dann gesagt: ‚Ich versetz dich jetzt mal, und du hältst die Klappe. Und dem Opfer sagen wir auch, es soll die Klappe halten. Und wir sagen auch nichts, weil die Kirche darf ja nicht beschmutzt werden‘.“
Bundestagspetition zur Gleichberechtigung von Frauen in den Kirchen
Straftaten fallen nicht unter das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Das seien möglicherweise Vollzugsdefizite der Strafverfolgungsbehörden, sagt Stefan Muckel. Wenn es erste Anhaltspunkte – Anzeigen oder ähnliches – gegeben habe, müssten Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwälte ermitteln.
„Wenn jetzt noch vertuscht wird und systematisch weiter vertuscht wird, dann ist das auch eine Form der Strafvereitelung, die wiederum selber strafbar ist.“
Und welche Chancen hat die Bundestagspetition der katholischen Bewegung Wir sind Kirche zur Gleichberechtigung von Frauen in den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Der Staatsrechtler Stefan Muckel ist da eher skeptisch. Der Petitionsausschuss könne sich für unzuständig erklären. Weil ja Religionsgesellschaften selbständig ihre Angelegenheiten regeln könnten.
Andererseits drehe sich gerade der Wind: Vom Europäischen Gerichtshof gab es 2018 zwei Korrekturen zur kirchlichen Praxis.
So bekam eine Klägerin, die sich auf eine Stelle des evangelischen Wohlfahrtsverbandes Diakonie beworben hatte und abgelehnt wurde, weil sie nicht Kirchenmitglied war, eine Entschädigung zugesprochen. Und ein katholischer Chefarzt an einem katholischen Krankenhaus verlor nicht seine Arbeitsstelle, als er zum zweiten Mal heiratete. Das sind Zeichen eines neuen Kurses.
„Vielleicht hängt es damit zusammen, dass man die Kirchen anders anschaut. Es hängt vielleicht auch damit zusammen, dass das religiöse Leben in Mitteleuropa pluraler geworden ist.“
Vielleicht hängt der neue Kurs auch damit zusammen, dass nicht mehr so viele Menschen in den Kirchen sind. So mag auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch weitere Korrekturen für Religionsgemeinschaften bringen.
„Wir haben es wirklich mit einem offenen Diskussionsprozess zu tun, der in Gerichten entschieden wird. Und ich vermag nicht zu sagen, wie das ausgeht.“
Zuletzt geändert am 13.12.2018