11. Juni 2020 - publik-forum.de Seite 33
Kirchliche Reformgruppen und die Corona-Krise. Sind sie systemrelevant?
»Steh nicht stille im Vergangenen …«
Sind Reformbewegungen in der katholischen Kirche in der Corona-Krise eigentlich systemrelevant?
Von Britta Baas
An jenem Samstag im Mai scheint die Welt in Ordnung zu sein. Zumindest so in Ordnung, wie sie unter Corona-Bedingungen sein kann. In Münster haben sich rund um die Heilig-Kreuz-Kirche ein paar Frauen und Männer versammelt. Sie wollen ein Kunstprojekt Wirklichkeit werden lassen. Tagelang haben sie alles vorbereitet, jetzt stellen sie weiße Pappfiguren an die Kirchenmauern, lebensgroß. Auf jeder steht ein Wort. Wer will, kann ganze Sätze lesen: »Steh nicht stille im Vergangenen.« Oder: »Was früher war …«
Die Frauen und Männer sympathisieren mit der Bewegung Maria 2.0, die vor einem Jahr mit einem bundesweiten Streik bekannt wurde, der in Münster seinen Ausgang nahm. Zehntausende Frauen blieben tagelang der Kirche fern. Sie boykottierten die Gottesdienste, legten ihr kirchliches Ehrenamt auf Eis und verweigerten jedweden Job, für den sie sonst keine Mühen scheuten. Ihr Ziel: die Kirche zu reformieren, Gleichberechtigung durchzusetzen, das Ende des theologisch untermauerten Patriarchats einzuleiten. Jetzt, ein Jahr später, organisiert sich die Bewegung unter den Bedingungen der weltweiten Bedrohung durch ein todbringendes Virus. »Wir sind lange bei uns geblieben, zu Hause, im Nachdenken, im Stillen«, sagt Lisa Kötter, Künstlerin und eine der Gründerinnen von Maria 2.0. »Aber die Aura der Leute fehlt. Wir wollten endlich wieder etwas Authentisches, Direktes tun.«
Die Freude währt nur eine Nacht. Dann bemächtigen sich andere Christen mit anderen Ideen im Kopf der Kunstaktion. Menschen, die unbedingt stille stehen wollen im Vergangenen. Die Figuren werden mit roter Schrift übermalt. Mit Bibelstellen wird der Aufbruchsgeist übertüncht, der Zorn Gottes auf jene herabgerufen, die etwas verändern wollen.
Lisa Kötter sitzt einige Tage später auf ihrer Terrasse in Münster. Sie schreibt viel in diesen Tagen. Alles muss raus aus ihrem Kopf, was sich da angesammelt hat: die Wut, die Trauer, der Aufbruchsgeist. »Brauchen wir diese Kirche noch?«, fragt sie sich. Die durch Corona erzwungene Abstinenz von Gottesdienst und Eucharistie hat zu einem tiefen Nachdenken über alles geführt, was ist – und zum Abschied vom Aktionismus. »Was ist die Kirche?«, fragt sie sich. Die Eucharistie unter Corona-Bedingungen untermauere nur »die Macht der Priester«. Und wer wolle die noch?
Also austreten? Lisa Kötter weiß von vielen Frauen, die sich das gerade überlegen. Die einfach keinen Zugang mehr zur Kirche finden. Die der virusbedingte Lockdown aus dem letzten Rest der noch vorhandenen Kirchennähe herausgerissen hat. Aber die Situation sei eben sehr verschieden, je nachdem, auf welchem Fleckchen der Erde man wohne: »Für sehr viele ist es überhaupt keine Option, ihren Glauben jenseits der Kirche zu leben. In manchen Weltregionen bestimmt die kirchliche Struktur über das ganze Leben.« Frauen darin allein lassen? Das will Lisa Kötter nicht. »Die internationale Vernetzung hält uns zusammen, mehr denn je.« Auch wenn Projekte und Treffen gerade nicht realisiert werden und wohl auch 2021 nur virtuell stattfinden könnten. »Das ist schwer. Der Mensch muss andere Menschen fühlen können.« Das Digitale ersetze das nicht.
Christian Weisner von Wir sind Kirche macht ähnliche Erfahrungen. Die »Generation Konzil«, die 1995 die Bewegung gründete, sei nicht vollständig im digitalen Zeitalter angekommen. »Wir haben neulich, zu Ostern, ganz bewusst Postkarten an unsere Mitglieder verschickt. Das kam gut an.« Das Bundesteam aber trifft sich virtuell, verbreitet Newsletter, ist im Internet unterwegs. Manches, was die Kirche in der Corona-Krise neu entdecke, sei für Wir-sind-Kirche-Leute seit 25 Jahren selbstverständliche Praxis, sagt Weisner: Hauskirchen, ein Miteinander auf Augenhöhe, Christsein ohne Fokus auf Priester. »Was wir im Labor getestet haben, propagiert die Amtskirche jetzt. Nach Jahrzehnten des Widerstands.«
Kötter und Weisner bemerken in diesen Zeiten, dass Aufbruch geschieht – und dass es zu einer Polarisierung kommt. Die einen sähen die Chance, endlich Reformen zu erreichen. Die anderen setzten alles daran, dass die Kirche wieder so wird, wie sie vor dem Konzil in den 1960er-Jahren war: priesterzentriert, machtvoll, mystisch. Es wird mit harten Bandagen gekämpft, denn es geht um die Systemrelevanz des Christlichen. Mit der Politik der roten Stifte aber werde man die Gesellschaft nicht erreichen, sagt Weisner in Anspielung auf die Kunstschändung in Münster: »Damit ist man am Ende.«
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Zuletzt geändert am 12.06.2020