28.4.2021 - ZEITmagazin Nr. 18/2021
Warum wir die Kirche ändern wollen
Ana Carola Pasquay, 79, Seelsorgerin aus Niederbayern
Ich habe zehn Jahre lang ehrenamtlich das Opfertelefon der katholischen Laienbewegung "Wir sind Kirche" betreut. Wir haben es 2002 eingerichtet, als klar wurde, wie massiv Kinder und Jugendliche sexueller Gewalt durch Kleriker ausgesetzt waren.
Joseph Ratzinger hat "Wir sind Kirche" nach der Gründung 1995 abgelehnt, weil unsere Forderungen nach Reformen angeblich der christlichen Lehre widersprächen. Ich habe mir damals vorgenommen: Wenn Ratzinger je Papst wird, trete ich aus der Kirche aus. Ich bin dann aber doch dringeblieben. Weil ich nur etwas verändern kann, wenn ich der Kirche angehöre.
Aber ich habe mich zurückgezogen. Gottesdienste besuche ich nur noch zweimal im Jahr, Freunden zuliebe. Früher habe ich die schönsten Erntedank-Altäre mit Blumen aus meinem Garten gestaltet. Heute möchte ich auf gar keinen Fall mehr zu den eifrigen Verehrerinnen gehören, die in den Gemeinden schmücken und putzen, flicken und waschen. Ich rühre keinen Finger mehr für die Amtskirche. Ihre Verlogenheit ist zerstörerisch, ihr Hochmut erstickend.
Die Zeit am Opfertelefon hat mein Verhältnis zur Kirche sehr verändert. Ich wusste, dass die Kirche viele Abgründe hat. Aber diese Abgründe habe ich nicht erwartet. Mehr als fünf oder sechs Telefonate am Tag habe ich nicht geschafft, so sehr hat es mich seelisch an meine Grenzen gebracht. Hauptsächlich ging es darum, die Betroffenen aus sich herauszulocken, damit sie aussprechen, was sie erlitten haben. Ihnen dann zuzuhören. Aber fast jeder Einzelfall hat Dutzende weitere Telefonate nach sich gezogen, in denen ich zum Beispiel Therapeuten und Ärzte gesucht oder einen Anwalt vermittelt habe. Frustrierend waren vor allem die Gespräche mit den Bistümern. Da wurde nur gefragt: Was wollen Sie, und wer sind Sie überhaupt? Und nicht: Was ist passiert? Oder: Was können wir tun? Mitleid hat keiner gezeigt.
Das Opfertelefon war anonym, nur wenige Anrufer nannten, wenn es ihnen wichtig war, ihren Namen. Eine der ersten Anruferinnen war eine 86-jährige Frau, die als sechsjähriges Kind vom Ortskaplan vergewaltigt worden war. Sie erinnerte sich an alle Details, wusste Tag und Uhrzeit. Und sie dachte, sie sei die Einzige, der etwas so Schreckliches angetan worden ist. Ich habe ihr vermitteln können, dass ich ihr alles glaube, was sie sagt. Das hat ihr geholfen. Und weil sie starke Schuldgefühle hatte, habe ich gesagt: Ein Kind ist immer unschuldig. Ein Kind ist immer ein Opfer.
Insgesamt habe ich in den zehn Jahren etwa 400 Fälle betreut. Ich habe alles in Notizheften aufgeschrieben, was mir anvertraut worden ist. Irgendwann werde ich die Notizen verbrennen, damit sie nicht in falsche Hände geraten. Ich habe jedem Hilfesuchenden mein Wort gegeben, die anvertrauten Geheimnisse nicht zu missbrauchen.
Nur in einem einzigen Fall, den ich betreut habe, gab es Konsequenzen – weil der Täter noch gelebt hat und sein Vorgesetzter an Aufklärung interessiert war. Zehn Jahre lang habe ich in den Bistümern darum gekämpft, Schuld einzugestehen und die Opfer zumindest anzuhören. Dass seither praktisch nichts passiert ist, verfolgt mich bis heute. Wieso schafft die Kirche die Schandtaten nicht rechtlich, sittlich, moralisch und ethisch aus der Welt?
Zuletzt geändert am 30.04.2021