Februar 2022 – Kirche In (Kolumne „Unzensiert“) vorab
Das falsche Vorbild
„Wäre ich nicht besser Professor in Bonn, Münster oder Regensburg geblieben? Oder gar in Tübingen, wohin mich Hans Küng holte?“ Ist es denkbar, dass sich Joseph Ratzinger diese Fragen vielleicht an manchen Stellen seinem langen Leben gestellt hat? Küng und er hätten ein gutes Team bilden können, das die Öffnungen des Zweiten Vatikanischen Konzils weiter vorangebracht hätte.
Es ist ganz anders gekommen, eine Karriere in der kirchlichen Hierarchie mit einem fürchterlichen Absturz. Das jetzt veröffentlichte zweite Münchner Missbrauchsgutachten verdient zu Recht große Aufmerksamkeit. Auf 350 Seiten zeigt es am Fall des „Pfarrer H.“ das toxische Muster von Vertuschung klerikaler Missbrauchstaten auf. Dieser Pfarrer H. wurde in der Kinder- und Jugendseelsorge eingesetzt, obwohl ein Therapeut es ausdrücklich untersagt hatte. Und das geschah in der Zeit, als Ratzinger Münchner Erzbischof war. Sein bischöflicher Wahlspruch „Mitarbeiter der Wahrheit“.
Doch jetzt lässt Ratzinger über seinen Sekretär Georg Gänswein auf 82 Seiten des Münchner Gutachtens jede Verantwortung leugnen, was den Gutachtern wenig glaubhaft erscheint. Ein weltweit beachtetes, großes Vorbild für andere Bischöfe und Verantwortungsträger hätte er jetzt werden können, wenn er die moralische Größe für ein persönliches Schuldeingeständnis gehabt hätte. Er hat sie leider nicht.
Der Schock, wie sehr Ratzinger mit seiner Stellungnahme zu diesem Münchner Gutachten seinen eigenen Ruf auch als Theologe zerstört hat, sitzt tief. Das System Ratzinger, das auch nach seinem Rücktritt sich massiv in das Pontifikat seines Nachfolgers einmischte, ist kollabiert.
In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass Kardinal Ratzinger während seiner langen Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation noch im Jahr 2001 alle Missbrauchsfälle weltweit unter das „päpstliche Geheimnis“ gestellt hat. Eine fatale Entscheidung, die erst durch Papst Franziskus aufgehoben wurde. Wenn es diesen „Geheimerlass“ nicht gegeben hätte, wäre vielen Tausend Betroffenen schwerstes Leid erspart geblieben und die fundamentale Glaubwürdigkeitskrise der römisch-katholischen Kirche hätte vielleicht vermieden werden können.
27 Jahre nach dem Wiener Missbrauchsfall Kardinal Groër zeigt dieses zweite Münchner Gutachten, dass die römisch-katholische Kirche immer noch am Anfang der Aufarbeitung steht. Rücktritte auf den verschiedenen Leitungsebenen mögen nötig sein. Wichtiger aber sind endlich konkrete Zeichen der Umkehr und Erneuerung wie jetzt beim Synodalen Weg, damit die katholische Kirche nicht zu einer bedeutungslosen Sekte ohne Bedeutung in der Gesellschaft schrumpft.
Christian Weisner
Wir sind Kirche Deutschland
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Zuletzt geändert am 24.01.2022