20.9.2012 - FAZ
Jenseits der Frustrationsgrenze
Von Daniel Deckers
68 - 55 - 27 -13 -14 - 21 - eine schlichte Zahlenreihe, die es in sich hat: Am Beispiel der Zahl der Priesterkandidaten des Bistums Limburg beschreibt sie die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland. Zu lesen ist sie so: Zu Beginn der achtziger Jahre keimte nach dem nachkonziliaren Exodus der Priester, wie ihn die Kirche seit der Reformation nicht mehr erlebt hatte, erstmals wieder Hoffnung. Die Zahl der Seminaristen und mit ihr bald auch die Zahl der jungen Priester stieg stetig an. 1986 erreichte sie mit 68 Kandidaten einen letzten Höhepunkt. Danach sinkt sie im Abstand von fünf Jahren jeweils, in Limburg allerdings steigt sie zuletzt wieder an. Gegenwärtig bilden die Priester, die den geburtenstarken Jahrgängen von 1958 bis 1968 entstammen, in allen Bistümern das Rückgrat der Seelsorge und in den Bistumsverwaltungen. In den kommenden Jahren wird man sie auch an der Spitze der 27 Bistümer finden.
In Speyer (Wiesemann), München (Marx). Trier (Ackermann), Limburg (Tebartz-van Elst), Essen (Overbeck) und Berlin (Woelki) ist der Generationswechsel schon vollzogen. In Hamburg. Freiburg, Köln und Mainz steht er bevor. Routine ist das nicht. Denn an vielen Orten treten Bischöfe, die das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) bestenfalls aus Studium und Erzählungen kennen, an die Stelle von charismatischen Gestalten wie dem Limburger Bischof Franz Kamphaus oder dem Mainzer Kardinal Lehmann, für die das Konzil und die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1972-1975) zu einer biographischen Wasserscheide geworden war. Ihr Bild der Kirche ist nicht mehr geprägt von den Hoffnungen und Aufbruchsphantasien, die sich mit dem Konzil und der Würzburger Synode verbanden. Wo ihre Vorgänger selbstbewusste Verbände und Vereine am Werk sahen, ist heute vielfach nur noch leere Hülle. Wo sich Kirchen einst mehrmals am Sonntag füllten, findet heute mitunter nicht mal mehr eine Messfeier statt. Wo die Vorgängergeneration noch personell wie finanziell aus dem Vollen schöpfen konnte, gleicht die Aufgabe eines Bischofs eher der eines Mangelverwalters, wenn nicht der eines Sanierers, der die Kirche mit harten Einschnitten vor der drohenden Insolvenz bewahren muss.
Denn hier kommen die anderen Zahlen ins Spiel. Sie beschreiben die scheinbar unaufhaltsame Implosion einer Gestalt von Kirche, die dem einzelnen Christen von der Geburt bis zum Sterbebett physisch durch die Sakramente und ihre Spender, die Priester, nahe war. Mit kaum noch zwanzig Seminaristen und im Schnitt kaum drei Priesterweihen im Jahr, wie es Pars pro Toto im Bistum Limburg in den neunziger Jahre die Regel war, lässt sich jene „Gemeindekirche“ nicht mehr aufrechterhalten, die für die Mehrzahl der Katholiken hierzulande als das Modell von Kirche schlechthin gilt.
Schon seit Jahren werden daher in einem Bistum nach dem anderen Pfarrgemeinden mit mehr oder weniger Fortüne zusammengelegt oder mit mehr oder weniger Druck auf Zusammenarbeit eingeschworen. Dass die Bischöfe nahezu flächendeckend auf ein Beharrungsvermögen stoßen, das hier und da in offenen Widerstand umschlägt, ist allzu verständlich. Denselben Laien, die man seit Generationen auf die „Gemeinde“ als Ort kirchlicher Beheimatung eingeschworen hat und denen die Feier der sonntäglichen Eucharistie als Quelle und Höhepunkt kirchlichen Lebens angepriesen wurde, wird jetzt erklärt, dass sie sich auch ohne Gemeinde und Sakramente in der Welt zurechtfinden sollen. Enttäuschung, Wut, aber auch Resignation ist die Reaktion zweier Generationen, deren Kirchenträume zum Fluch geworden sind.
Eine neuerliche Umkehr dieser Entwicklungslinie ist nicht in Sicht - es sei denn, man läse in die zuletzt steigende Zahl an Seminaristen im Bistum Limburg etwas hinein, was Anlass zur Sorge geben könnte: dass Bischöfe in der Not Kandidaten annehmen beziehungsweise womöglich zum Priester weihen, die nicht die erforderliche Reife aufweisen. In der Tat scheint Bischof Tebartz seit seinem Amtsantritt im November 2007 ein kleines Wunder vollbracht zu haben: Gegen den Trend ist die Zahl der Seminaristen von 14 im Jahr 2006 auf 21 im Jahr 2011 gestiegen. Im Wesentlichen geht dieser Anstieg auf Partnerschaften mit vier Bistümern jenseits des ehemaligen Eisernen Vorgangs zurück, die es besonders begabten Seminaristen ermöglicht, ihr Studium in Deutschland zu absolvieren und sich danach für die Rückkehr nach Polen, Weißrussland, Rumänien oder die Slowakei oder einen Dienst im Bistum Limburg zu entscheiden.
Daneben aber will der Verdacht nicht verstummen, dass in Limburg Kandidaten zum Zuge kommen könnten, die andernorts mit guten Gründen abgelehnt wurden. So hatte es vor allem Bischof Mixa in Eichstätt und Augsburg gehalten, als man in Rom noch mit Seminaristenzahlen Eindruck schinden und sich für höhere Weihen empfehlen konnte. Doch auch im Vatikan ist man nach diversen Skandalen in Seminaren besonders anziehender Bischöfe hellhöriger geworden.
Freilich fehlt es der katholischen Kirche nach herkömmlichen Maßstäben nicht allein an Priestern, sondern auch an Gläubigen - und mit ihnen auch an Männern und Frauen, die bereit sind, sich hauptberuflich oder im Ehrenamt im Raum der Kirche zu engagieren. Auch das war vor gut einer Generation noch anders: Damals sprengte die Zahl der angehenden Diplomtheologen, Gemeindereferenten und Religionslehrer Hörsäle und Seminarräume. Die Personalverantwortlichen der Bistümer hatten oft die Qual der Wahl - sie konnten sich die besten eines jeden Jahrgangs auswählen.
Heute haben sich Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. „Wir können mehr Stellen finanzieren, als wir qualifiziert besetzen können“, gestand vor kurzem der Generalvikar des Erzbistums Freiburg, Fridolin Keck, öffentlich ein. Dieser Zustand ist nicht allein das Ergebnis des öffentlichen Debatte über den Umgang der Kirche mit Tätern und Opfern sexueller Übergriffe, wie sie seit dem Winter 2010 in Deutschland geführt wird. Für den Arbeitgeber Kirche mindestens so abträglich ist das Arbeitsrecht der katholischen Kirche mit seinen harten Sanktionen für Lebensformen, die von der Lehre der Kirche abweichen.
Wer nicht das Risiko eingehen möchte, dass mit dem Scheitern privater Lebensentwürfe auch die Berufsperspektive zerstört wird, der überlegt sich zweimal, in den Dienst der katholischen Kirche zu treten. Schon jetzt chronisch ist der Mangel an geeigneten Bewerbern für Leitungsfunktionen in Krankenhäusern und anderen Sozialeinrichtungen. Auf dem Feld der Kirchenmusik und damit einer vitalen Funktion von Kirche ist eine ähnliche Entwicklung kaum noch abzuwenden.
Als reiche der Autoritätsverfall der Kirche als Institution nicht aus, um sie als Arbeitgeber in ungünstigem Licht erscheinen zu lassen, haben einzelne Bischöfe in den vergangenen Jahren ein geistiges Klima entstehen lassen, in dem es kaum noch möglich ist, halbwegs kompetente Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten. In Limburg etwa macht seit Monaten ein Brief von Priestern die Runde, in dem Bischof Tebartz und seinem Generalvikar Franz Josef Kaspar vorgehalten wird, durch intransparente Entscheidungsprozesse eine „Atmosphäre lähmender Furcht“ zu verbreiten. „Wachsende Resignation, Ermüdungserscheinungen, zunehmende Krankheitsfälle sowie Rückzugstendenzen unter Priestern, pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“ seien die Folge. Bizarrerien wie ein Erste-Klasse-Flug des Bischofs in indische Slums, beispielloser liturgischer Pomp, Ausgaben in schwindelerregender Höhe für ein „Diözesanes Zentrum“ genannte neue Wirkungsstätte des Bischofs in Limburg und die fristlose Kündigung eines langjährigen Mitarbeiters, der sich abfällig über die Zustände in der Diözese geäußert haben soll, lassen an der Urteilsfähigkeit der Bistumsleitung zweifeln.
Wege aus den vielen kleinen und großen Krisen der katholischen Kirche in Deutschland sind ungeachtet alter Dialog- und Aufbruchsrhetorik, die Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) gemeinsam verbreiten, nicht in Sicht. Das Theologenmemorandum vom Februar vergangenen Jahres ist ebenso wirkungslos geblieben wie es mutmaßlich der Aufruf „Ökumene jetzt“ sein wird.
Denn wie in dem von der Bischofskonferenz initiierten „Gesprächsprozess“, bei dem sich Bischöfe und Laien am vergangenen Wochenende in Hannover wieder einmal in Stuhlkreisen und Gruppengesprächsmodellen namens „Fishpool“ wiederfanden, übersteigen die meisten Therapievorschläge die Binnensicht nicht. Immerhin versprach der Freiburger Erzbischof Zollitsch als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, man wolle auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ausloten, wie die sogenannte Grundordnung und die darin kodifizierten Loyalitätspflichten kirchlicher Mitarbeiter überarbeitet werden könnten.
Doch insgesamt fehlt es nach wie vor an einer neutralen Beobachterperspektive. Und nicht nur daran. Neben jedem Therapievorschlag müsste eine unverbrämte Diagnose des Status quo stehen, die zwangsläufig mit einer Anamnese der Entstehung der gegenwärtigen Krise und ihren Ursachen einherginge. Ob es jemals zu dieser Form der Selbstverständigung kommen wird und von wem eine entsprechende Initiative ausgehen könnte, ist derzeit nicht abzusehen. In der Generation der „jungen“ Bischöfe ist eine gemeinsame Anstrengung bislang nicht auszumachen. Was persönliche Abneigung und Einzelgängertum nicht verhindern, scheitert in Form guter Vorsätze an einem Alltag, der dem eines Spitzenmanagers ähnlicher ist als dem eines „guten Hirten“.
An dieser Stelle, aber kommt als letzte Zahl eine fiktive Größe ins Spiel. Wenn es an Priestern mangelt, die für Leitungsaufgaben qualifiziert sind, dann ist die logische Folge ein Mangel an geeigneten Kandidaten für das Bischofsamt. Dieser Mangel ist schon jetzt unübersehbar, allen voran in Bayern, wo es seit Jahren nicht gelingt, bayerische Bischofsstühle mit Priestern aus München, Bamberg, Würzburg oder Regensburg zu besetzen. „Wer glaubt, ist nie allein“, hieß das Motto des Besuchs, den Papst Benedikt im September 2006 seiner bayerischen Heimat abstattete. Inzwischen muss man das Motto variieren: „Ist nicht allein, wer glaubt?“
Zuletzt geändert am 29.09.2012