27.9.2014 - Süddeutsche Zeitung
Lasst die Kirche im Dorf
Immer mehr Menschen entfernen sich in Deutschland von den großen Kirchen. Der demografische Wandel, Priestermangel vor allem in der katholischen Kirche und Skandale verstärken den Prozess. Die Kirchen reagieren darauf mit Strukturreformen. Viele Bistümer und Landeskirchen sehen ihr Heil darin, den bestehenden Kirchengemeinden Pfarrei- und Gemeindefusionen aufzudrängen oder gar aufzuzwingen. Einwendungen und Proteste werden ignoriert oder kalt abgewiesen. Die Auswirkungen sind dramatisch: Durch die Beseitigung gerade der dörflichen Kirchengemeinden wird das Vertrauen der Menschen in die Kirche weiter erschüttert. Die Fusionen beschleunigen die Flucht selbst der Treuen aus der Kirche. Es droht die Auflösung der Volkskirche in der Fläche. Amtskirche beseitigt Volkskirche.
Diese Fusionen schaden der Seelsorge vor Ort und dem Gemeindeleben. Mit ihnen beseitigen die Kirchenleitungen die lokale Basis der Kirche. Sie eliminieren die lebendige Einheit von Kirche und Dorf, die vielerorts seit dem frühen Mittelalter besteht. Sie stoßen mit ihrem Zentralismus die Gläubigen in den Dörfern vor den Kopf. Man bekommt keine Antwort auf die Frage: Was soll sich für die Gläubigen in den Dörfern verbessern, wenn sie ihre Kirche verlieren, wenn sie keine lokalen (und demokratischen) Gremien des Mitgestaltens und Mitverantwortens mehr haben? Auch unter Landpfarrern ist das Unverständnis weit verbreitet. Auf ihre Einwände wird gar nicht oder von oben herab reagiert.
Die Kirchengebäude, vor Jahrhunderten von Dorfbewohnern errichtet und selbst in Zeiten der Armut gepflegt, sind Mittelpunkte und Symbole des Glaubens und Gemeindelebens. Nun sollen sie dem Dorf weggenommen und einer anonymen Großgemeinde übereignet werden. Derartige Fusionen zerstören das in Jahrhunderten gewachsene lokale Denken, Handeln und Fühlen der Dorfgemeinde für ihre Kirche – was ja die Lebendigkeit und Kraft der „Volkskirche“ ausmacht. Sehen die Verantwortlichen in den Zentralbehörden nicht diese programmierten Verluste? Zynische Beobachter – auch unter den Pfarrern – sagen, dass diese Verluste in den Kirchenleitungen kaum jemand interessieren! Ein Pfarrer aus dem Westfälischen sagt: Die Kirche demontiert sich selbst. unser Problem sind nicht irgendwelche Kirchenfeinde, es sind die kirchlichen Bürokraten.
Die kirchlichen Gemeindefusionen wiederholen die gravierenden Fehler der kommunalen Gebietsreformen der zurückliegenden Jahrzehnte in einigen Bundesländern. Dort wurden ungefähr 400 000 ehrenamtlich tätige Bürger aus den Gemeindeparlamenten „wegrationalisiert“. Dies hat zu Desinteresse an der Kommunalpolitik geführt. Die gleichen Konsequenzen werden nun auch der Kirche bevorstehen. Hunderttausende gewählte und ehrenamtlich tätige Christen würden durch das Wegfallen der lokalen Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände nicht mehr gebraucht. Sie gingen unwiderruflich verloren.
Den Bischöfen fehlt das Vertrauen in die Gläubigen
Offenbar fehlt den Kirchenleitungen das Vertrauen in die Gläubigen, in deren Kompetenzen und Kräfte, in die Selbstregulierungskraft der dörflichen Gemeinden. Man zentralisiert ohne Rücksicht auf doch erkennbare Verluste. Auch die katholische Kirche muss künftig mehr Gläubige ohne Priesterweihe in die Seelsorge einbinden. Wie stellt man sich das vor? Wie will man ehrenamtliche Mitarbeiter halten und gewinnen, wenn man ihnen zuvor die Gemeinde genommen hat?
Es ist sinnvoll, die bestehenden Kirchengemeinden organisatorisch miteinander zu vernetzen und von Verwaltungsarbeit zu entlasten. Aber man braucht dazu keine Fusionen. Als Alternative bietet sich die Verbandsgemeinde an. Diese schafft eine starke zentrale Organisation und Verwaltung und belässt den zugehörigen Ortsgemeinden ihre Autonomie, ihr lokales Verantworten und Handeln. Die Verbandsgemeinde hat sich im kommunalen Bereich bewährt. Gott sei Dank gibt es Bischöfe und Bistümer, zum Beispiel in Osnabrück und Mainz, die sich an diesen Vorbildern orientieren und die dörflichen Pfarreien in Pfarrverbänden zusammenschließen.
Was in den anonymen Großgemeinden geschehen wird, kann man zum Teil jetzt schon beobachten. Es können nicht alle Kirchen, Pfarrheime und Pfarrhäuser gehalten werden. Es werden Kirchen geschlossen, entweiht und verramscht. Selbst in den entkirchlichten Regionen Ostdeutschlands sammeln die Bürger Geld, damit die Kirche im Dorf erhalten werden kann, weil sie zum Leben dazugehört. Und ausgerechnet die Kirchenleitungen nehmen nun in Kauf, dass die Kirche aus dem Dorf verschwindet.
Fusionierte Einheitsgemeinden sind übrigens keineswegs kostengünstiger als Verbandsgemeinden. Nach der kommunalen Gebietsreform stiegen die Kosten in Fusionsgemeinden, weil es keine lokalen Gremien mehr gibt und das Engagement der Bürger nachlässt. Aber selbst wenn die Fusionen kostenneutral würde – die sozialen und kulturellen Kosten wären unverantwortlich hoch.
Strukturreformen sind auch bei den Kirchen nötig. Sie sollten aber vor allem dazu beitragen, die Seelsorge und das Mitmachen vor Ort zu stärken. Papst Franziskus’ Kritik an einer selbstbezogenen, bürokratisch verkrusteten Kirche geht in diese Richtung. In den Kirchen muss das Subsidiaritätsprinzip wieder der Maßstab sein: mehr Vielfalt, mehr Zutrauen und Vertrauen in die unteren Entscheidungsebenen, weniger Bevormundung, weniger zentrale Lösungen und Vereinheitlichungen.
In unserer Gesellschaft gibt es ein wachsendes Unbehagen gegenüber der Demokratie. Wer von oben nach unten durchsteuert, verstärkt dieses Misstrauen. Wer da verloren gegangenes Vertrauen wiedergewinnen will, muss das soziale Miteinander stärken, Transparenz und Fairness. Das gilt auch für die Kirchen. Das Gemeindeleben in Kommunen und Kirchen wird in Zukunft mehr denn je darauf angewiesen sein, dass sich Menschen in ihrem Nahbereich engagieren. Wir brauchen die Bürgerkommune – und die Bürgerkirche.
Mit der Auflösung der Ortspfarreien schadet die Kirche nicht nur sich selbst, sondern auch dem Land und seinen Menschen. Das Dorf verlöre seine älteste und über Jahrhunderte mit Leben gefüllte und selbst organisierte und getragene gemeindliche Institution. Es verlöre seine geistliche, kulturelle und soziale Mitte und damit den Kern seiner lokalen Identifikation. Vielerorts sind die Kirchengemeinden die letzte Bastion der lokalen Selbstverantwortung. Schule, Post und Bürgermeister – all das haben die Zentralen den Dörfern schon genommen. Mit den Kirchen verlören sie ihr Herz. Kann dies den Kirchenleitungen gleichgültig sein?
Der Geograph Gerhard Henkel , 70, war Professor an der Uni Essen. Seit 45 Jahren erforscht er die Land- und Dorfentwicklung; sein 2011 erschienenes Buch „Das Dorf“ gilt als Standardwerk zum Thema.
Zuletzt geändert am 31.10.2014