21.12.2020 - rp-online.de
Sexueller Missbrauch in der Kirche: 82-Jährige bekommt acht Cent Schmerzensgeld pro Tag
Berlin/Neuss Regina Schwenke wurde als Mädchen in einer Gemeinde bei Neuss von einem katholischen Geistlichen mehrfach sexuell missbraucht. Nun wurde ihr eine Entschädigungszahlung in Höhe von 2000 Euro zuerkannt. Die heute 82-Jährige empfindet das als Schande.
„Der Friederich, der Friederich, das was ein arger Wüterich!“ Die Zeilen aus dem „Struwwelpeter“ hat Regina Schwenke noch im Ohr, von damals, aus der Zeit, als sie ihre Ferien bei Familie Küster in Stürzelberg bei Dormagen verbrachte. Die Worte galten dem Pfarrer der Gemeinde, der am Abend gerne mit Herrn Küster Schach spielte und sich für den nächsten Zug wieder einmal unendlich viel Zeit ließ. Regina Schwenke saß dann mit am Spieltisch. Und neben ihr der Pfarrer, der sie nach ihren Worten vielfach sexuell bedrängte.
Elf Jahre ist sie alt, als sie 1949 mit der sogenannten Kinderlandverschickung gemeinsam mit ihrem Bruder aus dem zerbombten Berlin ins Rheinland fahren darf. Ihre erste Ferienreise überhaupt, ein Urlaubsabenteuer. Sechs unbeschwerte Wochen sollen es werden.
Regina Schwenke hat noch viele Erinnerungen an diese Zeit, und viele Jahre waren es – sorgsam aussortiert – sogar gute Erinnerungen. Über den Sommer in Stürzelberg hat die frühere Journalistin sogar ein Buch geschrieben. „Und es wird immer wieder Tag“, heißt es. Die sexuellen Nachstellungen des katholischen Pfarrers kommen darin nicht vor. Eine Leerstelle. „Aus Scham vor meinem Mann und den Kindern habe ich damals die negativen Erlebnisse und Missbräuche nicht beschrieben“, sagt sie.
Die heute 82-Jährige hat lange geschwiegen. Bis die Berichte über sexuellen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland häufiger werden und sich immer öfter Betroffenen zu Wort melden und von ihrem Leid erzählen. Schließlich vertraut sie sich einer befreundeten Ordensschwester an. Die rät ihr, Kontakt mit der Interventionsstelle des Kölner Erzbistums aufzunehmen. Es kommt zu Gesprächen, die ihr das Erzählen über die Sommermonate 1949 möglich machen.
Das anschließend angefertigte Gesprächsprotokoll dokumentiert, wie plötzlich Erinnerungen wach werden und Worte finden. Für furchtbare Erlebnisse wie auf dem Kirchturm in Stürzelberg. Der Pfarrer habe ihr von dort den Blick übers Land bis zum nahen Rhein zeigen wollen, erinnert sie sich. Doch dann drängt sich der Seelsorger mehrfach an das völlig hilflose und irritierte Kind. Er kam auch zum Abendsegen auf ihr Zimmer. „Ich tat, als wenn ich schliefe. Er fummelte dann an meiner Bettdecke herum, merkte, dass diese bewusst versperrt war, und drückte mir nur ein Kreuz und einen Kuss auf die Stirn.“ Es wird schwierig für das Kind, den Nachstellungen des Priesters zu entkommen – zu zahlreich sind die Versuche des Priesters, ihr nahezukommen. Es kommt zu Übergriffen bei Fahrradausflügen, beim Schwimmen mit der Feriengruppe im Rhein. Und selbst beim Abendessen an festlich gedeckter Tafel versucht er, sie unterm Tisch zu berühren. Der Friedrich saß als böser Wüterich mit am Tisch.
Ihrem Bruder kann sie sich nicht anvertrauen. Der sei „genauso unaufgeklärt gewesen wie sie“. Die Versuche, mit der Gastfamilie darüber zu sprechen, scheitern. Und in der Marienschule, die sie in Berlin besuchte, hätten die Ordensschwestern stets von Keuschheit und Unkeuschheit geredet. Als sie sich in einer Beichte in Berlin dem Geistlichen anvertraut, rät der ihr, zur Schulleiterin zu gehen; doch weist die jede Beschuldigung barsch zurück.
Also beginnt Schwenke, über ihre Zeit in Stürzelberg zu schweigen. Sie lernt mit 17 Jahren in einem Tanzkurs einen jungen Mann kennen; sie heiraten, doch echtes Glück will sich nicht einstellen. Sie habe damals gehofft, so die 82-Jährige, ihre Abneigung gegen Berührungen überwinden zu können. Es gelingt nicht. Dass das mit ihren Erlebnissen als Mädchen zusammenhängt, auch das ist eine späte Einsicht.
Zur Silberhochzeit sagt sie ihrem Mann, dass sie so nicht mehr leben kann und in ein eigenes Zimmer ziehen wolle. Sie nennt es die „einzige Konsequenz, Offenheit zu zeigen“. Endlich will sie sich mit dem auseinandersetzen, was ihr angetan wurde und ihr Leben prägte.
Sie wolle niemanden anklagen, sagt Regina Schwenke heute. Aber sie möchte andere Betroffene ermutigen, öffentlich zu machen, welches Leid katholische Priester Kindern angetan haben. Die Verfehlungen des Pfarrers, der nur vier Jahre in der Stürzelberger Gemeinde blieb, haben nach ihren Worten „nichts mit Gott und meinem Glauben zu tun“. Der sei „unerschütterlich“. Nur gebe es große Probleme mit dem „Bodenpersonal“.
Nach der Kontaktaufnahme mit dem Erzbistum bekommt Regina Schwenke Anfang Dezember die Nachricht über die 2000 Euro, die am 11. dieses Monats überwiesen wurden. Nähere Angaben dazu gab es aus dem Kreis der für das Erzbistum tätigen, unabhängigen Ansprechpartner nicht. Der Grund ist die Vertraulichkeit der Gespräche, die allen Betroffenen garantiert werde. Nach Angaben des Erzbistums ist die sogenannte Leistungshöhe von der Zentralen Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz empfohlen worden; Köln sei dieser Empfehlung dann gefolgt. Doch habe Regina Schwenke die Möglichkeit, einen erneuten Antrag auf Anerkennung zu stellen. „Dies haben wir ihr auch empfohlen“, teilt das Erzbistum auf Anfrage mit.
Regina Schwenke habe überlegt, das Geld wieder zurückzuschicken. Der Großprior des Ordens Ordo Supremus Militaris Templi Hierosolymitani aber, Gerd G. Schwager, in dem Regina Schwenke „Dame“ ist, riet ihr, das Geld – ohne jede Anerkennung – anzunehmen und für ihre Sozialarbeit zu verwenden.
Gleich nach der Mitteilung über die 2000 Euro, die sie per E-Mail erreichte, hat Regina Schwenke einige Briefe geschrieben: an den Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, an Reinhard Kardinal Marx und den Berliner Erzbischof Heiner Koch. Sie beschreibt darin kurz ihren Fall und rechnet vor: Vom ersten Tag an, an dem sie der Pfarrer der Gemeinde bedrängte, sei ihr Leben zerstört gewesen. 2000 Euro Schmerzensgeld für mehr als 70 Jahre, das sind acht Cent pro Tag. „Ich muss Ihnen sagen, ich schäme mich für diese Kommission, die so mit meiner Ehrlichkeit, Offenheit und meinem zerstörten Leben umgegangen ist. Es ist entgegen Ihren Worten keine Tat zur Aufarbeitung, sondern eine Schande“, heißt es am Ende ihres Schreibens. Die Antworten darauf stehen noch aus.
Veröffentlichung mit schriftlicher Genehmigung von Dr. Lothar Schröder am 21.1.2021
Zuletzt geändert am 21.01.2021