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Veröffentlicht am 26­.10.2010

„Un' bolzo avanti?“

Auf Einladung des Ökumenischen Gesprächskreises Neuburg hielt Dr. Hans Förg einen Vortrag, der die Motive, Ziele und Grundlagen der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche erhellen sollte.

„Un' bolzo avanti?“ - Vielleicht haben sich Einige unter Ihnen über den italienischen Titel des heutigen Abends gewundert; deshalb möchte ich diesen Begriff erst einmal erklären. Er bedeutet: Ein Sprung nach vorne. Unter dieser Vision startete Papst Johannes XXIII. 1962 das II. Vaticanische Konzil mit dem Ziel, der katholischen Kirche nach der Abschottung während Mittelalter und Neuzeit durch „Aggiornamento“, Öffnung für die Welt von heute, den Weg in die Zukunft zu zeigen. Ich habe hinter das Thema kein Ausrufezeichen, sondern ein Fragezeichen gestellt; das steht für die Sorge der KirchenVolks-Bewegung, ob dieser Sprung bis jetzt nicht deutlich zu kurz geraten ist. Und so möchte ich Ihnen heute Motive und Ziele unserer Bewegung einmal darlegen.Wobei ich glaube, dass sich rasch herausstellen wird, dass sie sich alles Andere als kirchenfeindlich versteht.
Wir müssen ja einerseits Alle der Kirche zutiefst dankbar dafür sein, dass sie die Botschaft Jesu mit großem Engagement und unter großen Opfern seit fast 2000 Jahren bis auf uns tradiert hat. Ich glaube, in diesen Dank dürfen wir mit Fug und Recht auch einmal unsere Ortsgeistlichen mit einbeziehen. Wir dürfen darüber aber andererseits auch nicht übersehen, dass Jesus sein Vermächtnis in menschliche Hände mit all’ ihren Schwächen gelegt hat, dass Irrtümer und Irrwege unvermeidbar waren und die Kirche so bis heute eine semper reformanda geblieben ist.
Nach dem Markus- und Matthäusevangelium warnte Jesus bereits Johannes und Jakobus vor einem der folgenreichsten Fehler der Kirchengeschichte. Eines Tages baten die beiden Jesus, er möge den einen von ihnen, wenn er in sein Reich komme, zu seiner Rechten und den anderen zu seiner Linken sitzen lassen. Gewissermaßen als oberste Türwächter zum Paradies mit Generalvollmacht. Jesus aber will etwas ganz Anderes: Dass sie stattdessen als Diener ihren Mitmenschen den Blick für das Reich Gottes und die Gotteskindschaft öffnen. Weiter warnt er: „Lasst euch nicht Herren nennen, denn ihr habt nur einen Herren: Jesus. Ihr alle aber seid Brüder“ (Mt 23, 8), damit mahnt Jesus eine geschwisterliche und keine hierarchische Struktur der Kirche an!! Paulus griff dies auf, als er äußerte, dass er nicht Herr über unseren Glauben, sondern Diener zu unserer Freude sein möchte (2 Kor 1,24).
In der Praxis entwickelte sich das Verhältnis zwischen Klerus und Kirchenvolk rasch entgegengesetzt. Die Urkirche war zunächst ein freier Zusammenschluss gleichberechtigter, geschwisterlich gesinnter Menschen; „liberté, égalité, fraternité“ waren selbstverständlich. Alle Mitglieder waren durch die Taufe „Klerus“ (allgemeines Priestertum) und „Laien“ (Volk Gottes). Zwar bildeten sich notwendigerweise allmählich Leitungsstrukturen heraus. In den Briefen des Ignatius von Antiochien (160 – 197) fällt dann erstmals das Wort Hierarchie (wortwörtlich: Heilige oder Priester-Herrschaft!!). Bei Cyprian (Bischof von Karthago, 248 – 258) wird erstmals eine sakramentale Priesterweihe mit einer Teilung des Gottesvolkes in 2 Stände erwähnt: In „Ordo“ (geweihte Kleriker) und „plebs“ ( allgemeines Volk). Radikal verschlimmert wurde die Situation der Laien durch einige schwere Denkfehler von Augustinus ( 354 - 430 ):
1. Durch seine Prädestinationslehre. Ausgehend vom „Höllensturz“ der Engel glaubte Augustinus, dass Gott nur so viele Menschen in die ewige Seligkeit aufnehmen werde, als er Engel verloren hätte. Alle anderen Menschen – mittlerweile wohl Billionen - werde er wegen der Erbsünde gerechterweise für ewig verdammen.
2. Er griff die These von Origines und Cyprian auf, dass es kein Heil außerhalb der Kirche gebe (lateinisch: „extra ecclesiam nulla salus“). Diese These, bekannt geworden als „Extra-Dogma“, war zwar nicht ganz unumstritten, aber immerhin bestätigte z.B.das Konzil von Florenz 1442, dass „niemand außerhalb der katholischen Kirche des ewigen Lebens teilhaftig wird, vielmehr dem ewigen Feuer verfällt,..wenn er sich nicht vor seinem Tod der katholischen Kirche anschließt“. Auch Papst Pius XII. (und Ludwig Ott, 1961) vertrat noch diese Auffassung („de fide“, also als echtes Dogma). Ich selbst wurde schon als 6-jähriger mit dem Extradogma konfrontiert. Da erklärte uns unser Pfarrer in der Schule, dass die Katholiken in den Himmel kommen können; die Heiden und die ungetauften Säuglinge könnten in eine Art Vorhimmel kommen, die Evangelischen aber kämen alle in die Hölle, weil sie zwar an Gott glaubten, aber nicht „richtig“. Dieser Schock saß tief. So setzte die katholische Kirche schon Kinder psychisch unter Druck.
Eine der wichtigsten Neuerungen des letzten Konzils war sicherlich, dass das Extra- Dogma durch die Erklärung „Nostra aetate“ in aller Stille in Luft aufgelöst wurde. Dort heißt es nämlich, dass alle Religionen Gott suchen, dass er in allen verborgen sei, dass sie alle Wege zum Heil sein können und dass Gott das Heil aller Menschen wolle. Auch der damalige Professor Joseph Ratzinger und heutige Papst hat das Extra-Dogma 1968 in einem Buch ausdrücklich abgelehnt („La fine della chiesa come societa perfetta – das Ende der Kirche als einer perfekten Gesellschaft“ , Verlag Mondatori, Verona).
- Ein
3. schwerer Denkfehler war die Behauptung, die Amtsträger dürften den Menschen den allein seligmachenden Glauben mit Gewalt aufzwingen. Sie kennen alle das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22, Lk14), in welchem der Gastgeber seine Diener verbittert anweist, sie sollten die Bettler von den Ecken und Zäunen herbeirufen. Augustinus, der kaum Griechisch sprach, fiel an dieser Stelle auf einen Übersetzungsfehler herein. Im griechischen Text heißt es Kalessate; lateinisch steht dafür korrekt: „Vocate...“ ruft sie herbei. Das aber war im Text, welcher Augustinus vorlag, falsch übersetzt mit „cogite intrare...“ : Zwingt sie, einzutreten! Aus diesem Fehler leitete Augustinus die Berechtigung ab, den Menschen den Glauben aufzwingen zu dürfen. Der Apparat zu Einschüchterung und Entmündigung der Laien war komplett; das Grundanliegen Jesu, uns die Frohbotschaft vom Reich Gottes und unserer Gotteskindschaft zu verkünden, wurde als Drohbotschaft auf den Kopf gestellt. Aus dem Gott väterlicher Liebe wurde ein Gott abgrundtiefen Schreckens. Eugen Biser sagt, dass das Christentum spätestens ab diesem Zeitpunkt in seinem Kern verdorben wurde, weil Glaube als unser freies Ja zu Gott gleichgesetzt wurde mit blindem Gehorsam gegenüber Rom.
Die weiteren Konsequenzen waren verheerend: Ausschluss und Verfolgung von Andersdenkenden (denken Sie an Galilei (1633), an Giordano Bruno, der 1600 in Rom verbrannt wurde, an Jan Hus, Luther (Reformation 1517), Darwin, die Katharer, Waldenser, die Kreuzzüge, den 30-jährigen Krieg, andere Kriege, denken Sie insbesondere auch an Zwangsbekehrungen, Inquisition, oder auch an den Index verbotener Schriften, „Mischehe“ u.s.w.).
Wie sehr die Entfaltung des Geisteslebens in Europa geknebelt wurde, zeigt auch das Beispiel von René Descartes, der erst 1654, also 54 Jahre nach der Verbrennung von G. Bruno - auf dem Totenbett wagte, eines seiner Hauptwerke mit dem Titel „über die Welt oder Traktat über das Licht“ zur Veröffentlichung freizugeben, obwohl er inzwischen im protestantischen Stockholm lebte.
4. Augustinus griff weiter die These von Aristoteles und Platon auf, dass die Frau nur ein missgebildeter Mann sei, woraus denn auch abgeleitet wurde, dass sie des Priesteramtes nicht würdig sei.

Wieviel Leid hat die Kirche „im Namen Christi“ den Menschen angetan! Wie dankbar hätte sie für die fundierte Kritik Andersdenkender, wie Luther, Erasmus, Calvin und vielen Anderen sein müssen, anstatt sie zu verteufeln! Stattdessen griff sie neben dem absoluten geistlichen und geistigen auch nach dem weltlich-politischen Führungsanspruch. Besonders hervorgetan haben sich dabei Papst Stephan II., der um 750 mit der Lügengeschichte der Konstantinischen Schenkung (an P. Silvester I.) den Vaticanstaat gründete, und Gregor VII. (1073 - 1085 ) mit dem Dictatus papae, welcher unweigerlich zum Streit mit Kaiser Heinrich IV. führen musste. (Canossa, Investiturstreit: Wer ernennt die Bischöfe: Der Kaiser oder der Papst? ).
Der Dictatus papae umfasst 27 Punkte. Einige davon darf ich als Kostprobe zitieren:
Allein der römische Pontifex wird rechtmäßig universaler Bischof genannt.
Er allein kann Bischöfe absetzen oder wieder aufnehmen.
Er allein darf kaiserliche Insignien tragen.
Einzigartig ist sein Name in der Welt.
Die römische Kirche hat niemals geirrt und wird ... nie und nimmer irren.
Allein des Papstes Füße haben alle Fürsten zu küssen.
Ihm ist erlaubt, Kaiser abzusetzen.
Er selber darf von niemandem gerichtet werden.
Der römische Pontifex ist durch die Verdienste Petri heilig.

Im Zeitalter von autonomer Vernunft und Aufklärung versuchten säkular gesinnte Menschen, sich der absolutistischen Dominanz von Kirche und Staat zu erwehren. Rom aber versuchte, das Rad zurück zu drehen und sich gegen die „Moderne“ durch den sog. Antimodernismus abzuschotten und sich vielen Realitäten zu verweigern. Denken Sie noch einmal an Galilei, Darwin, an menschliche Grundrechte, denken Sie an Pius IX.( 1846 – 78 ), an seinen Syllabus errorum von 1864 (einen Katalog von 80 angeblichen „Irrtümern des Zeitgeistes“ , der z.B. einfachste Menschenrechte wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit ablehnte und die Heilswirkung anderer Konfessionen oder Religionen negierte), denken Sie an das von ihm einberufene I. Vatikanische Konzil von 1869 / 70, auf dem er sich unter skandalösen Begleitumständen Unfehlbarkeit des Papstes und Jurisdiktionsprimat zusprechen ließ. Die Zeit war überreif für eine grundlegende Reform, und sie kam überraschend 1957 mit der Wahl von Angelo Roncalli als Papst Johannes XXIII.. Er berief bekanntlich das II. Vatikanische Konzil (1962 – 65) ein, das, wie schon erwähnt, in einem „bolzo avanti“, einem großen Sprung nach vorwärts, zum Aggiornamento, also zu einer Öffnung für die Welt von heute führen sollte. Das war eine klare Absage an den Antimodernismus und an die mittelalterliche Erstarrung der Kirche. Unter Leitung des Papstes und unter Mitwirkung der überwältigenden Mehrheit der Bischöfe aus aller Welt schien sich die Kirche von vielen überholten Denkschablonen zu verabschieden, oft genug gegen erbitterten Widerstand der römischen Kurie. Die katholische Kirche sei schließlich kein Museum, sondern ein lebendiger Garten, deshalb müsste sie sich unter Führung des Hl.Geistes unaufhörlich neu orientieren und erneuern, so steht es in der Konstitution Gaudium et spes. Die Welt war überrascht und begeistert. Schließlich wurden 16 Dokumente in Form von Konstitutionen, Dekreten oder Erklärungen erarbeitet. Mit zu den wichtigsten zählen das Kapitel Lumen gentium aus der eben erwähnten Konstitution, welches festhält, dass die Gläubigen in ihrer Gesamtheit im Glauben nicht irren können, und dass Laien nicht nur das Recht, sondern sogar bisweilen die Pflicht haben, ihre kritische Meinung zu äußern.
Herausragend weiterhin das Dekret apostolicam actuositatem, welches eine Rückbesinnung darauf darstellt, dass Klerus und Laien als Partner Teile des gesamten Gottesvolkes mit verschiedenem missionarischem Auftrag seien, dass das völlig unterschätzte Apostolat der Laien als Sauerteig sozusagen an vorderster Front vielfach an Stellen wirke, die für Kleriker kaum erreichbar seien (z.B. Familie, Gestaltung des öffentlichen Lebens!). Herausragend auch die Erklärung über die Religionsfreiheit („Dignitatis humanae“). Dort heißt es ganz klar, dass es ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre sei, angeblich „von den Vätern ständig verkündet“ !, dass der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll und niemand zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf. Gott achte die Würde des Menschen, Zwang und Kunstgriffe seien des Evangeliums nicht würdig. Zur Freiheit hat uns Christus berufen, so heißt es im Galaterbrief. Wir sind nur Gott und unserem Gewissen verantwortlich. Kardinal Lehmann drückte das vor 3 oder 4 Jahren im Fernsehen einmal sehr drastisch aus, als er sagte, er glaube nicht an den Papst und nicht an die Kirche, sondern allein an Gott. - Das Lehramt kann bestenfalls „Diener zu unserer Freude“ sein und nicht Herr über unser Gewissen.
Weitere bolzi avanti waren das Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, das das Verhältnis zu den anderen christlichen Bekenntnissen darstellt, und die Erklärung „Nostra aetate“, welche anerkennt, dass auch andere Religionen Wege zum Heil sein können. Damit war, wie gesagt, das „Extra-Dogma“ vom Tisch!

Zur Umsetzung der Konzilsbeschlüsse sollten Kommissionen gebildet werden, aber, es wurde rasch spürbar, dass sich die römische Kurie, jetzt unter Führung von Papst Paul VI., ihre alten Machtpositionen nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. So entzog Paul VI. dem Konzil 2 wichtige Themen: Pflichtzölibat und Empfängnisregelung. Und die geplanten Kommissionen kamen entweder gar nicht erst zustande, oder wurden, bis auf die Liturgie- kommission, weitgehend ausgebremst. So z.B. die Kommission zur Reform des c.i.c., also des katholischen Kirchenrechts (1983) unter Federführung von Kardinal Felice, die eher Reformen verhinderte. Denken Sie weiterhin an die Enzykliken humanae vitae, dominus Jesus, an den Aufstieg von Opus dei, an die Behandlung der Befreiungstheologie in Südamerika, an donum vitae, an die Aufwertung der Pius-Bruderschaft, an die Wiedereinführung des tridentinischen Ritus u.s.w..

Einen mutigen Schritt zur Umsetzung der Konzilsbeschlüsse auf nationaler Ebene machte allerdings die sog. Würzburger Synode (1971 – 75). Unter Leitung von Kardinal Döpfner stellten Kleriker und Laien, alle mit gleichem Stimmrecht, praktisch das gesamte kirchliche Leben im katholischen Deutschland auf den Prüfstand. Es wurden schließlich 18 Beschlüsse gefasst, die vom Papst gebilligt wurden. Als praktische Konsequenz kam es u. a. zur Bildung von gemeinsamen Gremien wie Pfarrgemeinderäten, Diözesanräten und anderen, in denen Laien allerdings nur eine beratende und keine Mitentscheidungskompetenz haben. Auch bei der Besetzung wichtiger Ämter haben die Laien kaum ein Mitspracherecht. Dabei hatte schon das Konzil von Chalkedon 451 festgelegt, dass „nur jemand, der durch eine bestimmte Gemeinde berufen wird, wirklich die Ordinatio empfängt“. Nach Papst Leo d. Großen (440 – 461) gilt dies auch für die Bischofsweihe. („Inkardination“).
Auf manche Anfragen der Würzburger Synode kam von Rom allerdings noch nicht einmal eine Antwort, so zum Beispiel zur Behandlung wiederverheirateter Geschiedener oder gar auf die Bitte, ähnliche Synoden etwa im 10-Jahres-Rhythmus abhalten zu dürfen. Damit war diese Initiative abgewürgt.

Insgesamt nahmen Enttäuschung und Unmut nicht nur in Laienkreisen sehr rasch zu. In Österreich brachte der „Fall Groer“ im März 1995 das Fass schließlich zum Überlaufen: Kardinal Groer von Wien, Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz, musste eingestehen, dass er Jugendliche sexuell missbraucht hatte, und resignierte. Laienkreise sammelten daraufhin unter dem Namen „Wir sind Kirche“ in Österreich 500 000 Unterschriften für eine – wortwörtlich - „grundlegende Erneuerung der Kirche Jesu“, um der katholischen Kirche „wieder zu mehr Ansehen und Akzeptanz zu verhelfen“. Im gleichen Jahr wurde die Bewegung in Deutschland aufgegriffen – trotz erheblicher Behinderungen bekannten sich 1,5 Millionen Katholiken durch ihre Unterschrift zu dem Programm - und rasch breitete sich die Bewegung über 40 weitere Länder aus.

Von Anfang an standen 5 Reformanliegen im Brennpunkt der Bewegung:

1. Rückkehr zu einer geschwisterlichen Struktur der Kirche
2. volle Gleichberechtigung der Frauen bis hin zum Priesteramt
3. Abschaffung des Zwangszölibats für Priester
4. positive Bewertung verantworteter Sexualität
5. Frohbotschaft statt Drohbotschaft.


Lassen Sie mich, bitte, kurz auf die einzelnen Punkte eingehen.

Zu 1. Rückkehr zu einer geschwisterlichen Struktur der Kirche: Lassen Sie mich noch einmal zitieren: „Lasst euch nicht Herren nennen, denn ihr habt nur einen Herren: Jesus. Ihr alle aber seid Brüder“. Das ist das Bild einer Demokratie unter der Führung Jesu, in welcher jeder seine besondere Aufgabe hat. Ein Leib mit vielen Gliedern. Eine Familie, in der jeder seinen besonderen Platz einnehmen soll. Es gehört sicherlich zu den größten Überraschungen des letzten Konzils, dass der hohe Klerus dies im Prinzip wiederentdeckt hat, wie insbesondere in der bereits erwähnten Konstitution „gaudium et spes“ und der Erklärung „apostolicam actuositatem“ deutlich wurde. Wenn Klerus und Gottesvolk einander ernst nehmen, darf es anstelle des Dialogs keine Überheblichkeit geben, keine despotenhaften Weisungen von oben, die sich jeder Kritik, Diskussion und Rechtfertigung entziehen. Es sollte niemand glauben, Herr zu sein. Die Kirche Jesu darf keine Zweiklassengesellschaft sein, und Mitwirkung der Laien beinhaltet auch berechtigte Kritik durch Laien. Achtung vor den Laien und gebührende Einbindung in Entscheidungen - dieses Anliegen können Sie in meinen Ausführungen immer wieder durchhören.
Geschwisterlichkeit darf sich nicht nur nach innen, sondern muss sich ökumenisch auch nach außen richten, also zu anderen Konfessionen, Religionen und zu jedem Menschen. Zwar hat Jesus uns zugesagt, dass der Beistand uns in die Wahrheit führen werde, aber, er hat das niemandem exklusiv zugesagt. In der Kirche gab es von Anfang an heftige Meinungs- verschiedenheiten. Niemand sollte glauben, er sei im Alleinbesitz der Wahrheit. Nur der ehrliche Dialog wird uns mit viel Geduld und Toleranz der Wahrheit immer näher bringen. Erinnern wir uns einmal daran, dass die Frühkirche eine synodiale Struktur aus 5 selbständigen Patriarchaten hatte (Alexandrien, Antiochien, Jerusalem, Rom und später Konstantinopel ). Zusammengehalten wurde sie nur durch geschwisterlichen Dialog. Welche Bedeutung Rom zunächst hatte, zeigt das Konzil von Chalkedon (451), an welchem neben 600 Bischöfen der östlichen Patriarchate gerade einmal 5 Delegierte aus dem Patriarchat Rom teilnahmen. Und das große Schisma von 1054, also die Spaltung in Ost- und Westkirche, war schließlich doch nur das Resultat von anmaßender Selbstüberschätzung und Rechthaberei.

Zu 2. Gleichberechtigung der Frauen: Aus der Apostelgeschichte geht klar hervor, dass der Geist Gottes an Pfingsten auch über die anwesenden Frauen ausgegossen wurde. Das heißt, dass der Hl. Geist auch durch Frauen zu uns sprechen will! Für mich ist es unvorstellbar, dass Gott die Frauen als Menschen zweiter Klasse diskriminiert. Das schafften erst die Männer, z.B. mit der ursprünglich heidnischen These, die Frau sei nur ein misslungener Mann, also minderwertig. In der Urkirche übten viele Frauen leitende Funktionen aus, z.B. bei Eucharistiefeiern und in der Mission und wurden von Paulus als „synergoi“, gleichberechtigte Mitarbeiterinnen, angesprochen. Er erwähnt namentlich Junia, Phöbe, Priska, Tryphäna, Tryphosa, Persis, Maria, Julia, Evodia, Eudonia, Syntyche, Nympha u.a. Von Junia sagt er gar, dass sie „schon vor mir Apostelin war“, und Phöbe spricht er einmal als „Schwester“ und ein anderes Mal als „prostasis“, Vorsteherin an.
Die römische Kirche machte freilich um 1200 aus Junia einen männlichen Junian. In alten Schriften wird sie aber klar mit dem weiblichen Namen angeführt – z.B. bei Chrysostomos, dem 403 gestorbenen Patriarchen von Konstantinopel - , und auch im orthodoxen „Liturgikon“, das dem lateinischen Messbuch entspricht, wird sie bis heute so angesprochen. Übrigens nennt das Liturgikon auch Maria Magdalena Apostelin. Durch die Synode von Laodicea wurde das Priestertum für Frauen 360 offiziell verboten – was klar beweist, dass es bis dahin üblich war, und das Verbot wurde auch in der Folgezeit oft ignoriert, in Lyon z.B. bis ins 6. Jahrhundert. Vergessen wir nicht, dass Jesus, der kein Priester war, keinen einzigen Mann zum Priester geweiht hat. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle einmal ein Buch von Ute Eisen, Professorin für evangelische Theologie an der Uni Giessen, vorstellen. In ihrer Dissertation mit dem Titel „Amtsträgerinnen im frühen Christentum“ untersuchte sie nicht weniger als 50.000 frühchristliche Epitaphien (also Grabinschriften) auf christliche Amtsbezeichnungen von Frauen. Sie fand in 39 Fällen die Bezeichnung Diakonos bezw. später Diakonissa, in 7 Fällen Presbytera bezw. Sacerdota (also Priesterin), in 14 Fällen Didaskalou (= Lehrerin), in 3 Fällen Episcopa (= Bischöfin). Der vielleicht spektakulärste Fall ist der der Bischöfin Theodora. Dazu möchte ich Ihnen einige Fotos zeigen, die ich aufgrund des Buches 2009 in Rom aufgenommen habe.

Zu 3.: Pflichtzölibat: Nach Prof. Norbert Scholl waren vermutlich alle Apostel, außer Paulus, verheiratet. Der Pflichtzölibat wurde insbesondere durch Papst Gregor VII., den früheren Mönch Hildebrand, propagiert und endgültig 1139 durch das 2. Laterankonzil bestätigt. Sämtliche Priesterehen wurden nachträglich für ungültig erklärt – was für erhebliche Unruhen sorgte. Wir glauben, dass die Zölibatspflicht eine sehr hohe Hemmschwelle für die Ergreifung dieses Amtes ist und mit daran schuld ist, dass in ganz Deutschland 2008 weniger als 100 Männer die katholische Priesterweihe empfangen haben. Biblisch begründet ist sie nicht.

Zu 4.: Positive Bewertung verantworteter Sexualität: Seit frühesten Zeiten wurde Sexualität durch die Kirche diffamiert. Nach Augustinus wird beim Geschlechtsakt die Erbsünde übertragen. Andererseits wurde die Ehe ja durch die Kirche sogar zu einem Sakrament erhoben, welches sich die Partner gegenseitig spenden. Und in der Tat sind Ehe und, damit verbunden, Geschlechtsakt Ausdruck tiefsten gegenseitigen Vertrauens. Ein Geschenk Gottes.
Ein besonderes Kapitel spielt hierbei das Thema Empfängnisregelung.
Im Widerspruch zur anglikanischen Kirche hatte Papst Pius XI. 1930 in einer Enzyklika „Casti connubii“ sogar den Coitus interruptus als „Todsünde“ erklärt. Johannes XXIII. hatte auf dem letzten Konzil selbstverständlich auch diese Problematik in die Diskussion eingeführt. 1965 kam es schließlich zu 2 Abstimmungen, bei welchen sich jeweils rund 2000 Teilnehmer für und 91 bezw. 144 gegen die Empfängnisregelung aussprachen. Da griff überraschend Papst Paul VI. ein: Er empfahl mehrere Modifizierungen und übertrug das Thema letztlich einer päpstlichen Kommission. Mit der Enzyklika „humanae vitae“ setzte er sich 1968 aber auch über die Empfehlungen dieser Kommission hinweg. Wie bereits vor der Veröffentlichung durchsickerte (Herder-Korrespondenz 1967 ), mit folgender Begründung: Er könne doch der Enzyklika Pius XI. nicht widersprechen! Ein Papst irrt eben nicht. Mit dieser sachfremden Begründung hat sich 1 Mann über die Köpfe von damals 1,2 Milliarden Katholiken und über das Konzil hinweggesetzt! Das alte Rollenverständnis zwischen Papst und Laien war wieder da! Der Glaubenssinn des Volkes Gottes hatte sich wohl doch wieder einmal geirrt. Die Folge war ein schwerer Vertrauensverlust in die Führungskompetenz Roms. Als Tübinger Professor erinnerte Joseph Ratzinger damals daran, dass über dem Papst noch das eigene Gewissen stehe - eine Auffassung, welcher sich die Deutsche Bischofskonferenz 1968 mit der „Königsteiner Erklärung“ im Prinzip anschloss.

Zu 5.: Frohbotschaft statt Drohbotschaft:
Einem befreundeten Pfarrer verdanke ich folgende Geschichte: Ein Haus brennt. Der Besitzer ruft die Feuerwehr, und bereitwillig kommen auch gleich mehrere. Vor Ort aber entbrennt zwischen ihnen ein Streit über die richtige Löschmethode: Katholisch? Lutherisch? Reformiert? Orthodox? Oder israelitisch? Vor lauter spitzfindigem Streit, z.B. über die Unmöglichkeit des gemeinsamen Herrenmahls, brennt das Haus bis auf die Grundmauern nieder.
Wir Laien erwarten von den Kirchen etwas ganz Anderes. Zwar erwarten wir einerseits mit Recht, dass die verantwortlichen Theologen in Richtung Ökumene endlich ihre Haus- aufgaben erledigen. Anstatt zu Konfessionen bekehrt zu werden, erwarten wir vor Allem, an die Begegnung mit Gott herangeführt zu werden. Damit uns bewusst wird, dass jeder von uns ein von ihm Auserwählter ist. Dass wir verstehen, was er uns geschenkt hat. Dann fangen wir an, zu danken, und das ist m.E. der einzige Zugang zum Reich Gottes. Zu Nikodemus sagte Jesus einst, dass wir das Reich Gottes nicht sehen können, wenn nach unserer fleischlichen Geburt nicht auch unser Geist geboren wird. Jesus will unsere geistige oder spirituelle Geburt! „Der Geist macht lebendig, das Fleisch nützt nichts“ sagt er an anderer Stelle. - Wenn ich jemandem für ein Geschenk danke, wird in mir sofort der Wunsch wach, auf das Geschenk mit einem Gegengeschenk zu antworten. So entsteht ei ne lebendige Wechselbeziehung. So werden aus Dank unsere wertvollsten Kräfte frei, so kann aus Dank unser ganzes Leben zu einem Gegengeschenk an Gott werden - sei es als Lehrer, als Krankenschwester, als Elternteil, Bauer, Handwerker oder Künstler, je nach unserem Charisma. Zu Sinn und Motivation unseres Lebens finden wir nicht durch Drohbotschaft und Furcht, sondern aus Dank; so werden aus Menschen Menschen und Kinder Gottes. Kind Gottes, das ist nach Professor Biser das Größte, was man über den Menschen sagen kann. Dann kann Gott, wie ich es kürzlich in einer Predigt über die Taufe Jesu gehört habe, auch zu uns sagen: „Du bist mein geliebter Sohn / meine geliebte Tochter, an dir habe ich Wohlgefallen“. Dass uns die Kirchen anstelle der Drohbotschaft beistehen bei unserer spirituellen Geburt, darin sehe ich ihre große Aufgabe. So können sie wieder faszinieren und Menschen fischen.
Die katholische Kirche hat seit dem Umbruch des II. Vatikanischen Konzils zweifellos viel getan, um nach den Fehlern der Vergangenheit zu dieser Perspektive Jesu zurückzufinden. Dass sie sich in manchen Fällen noch nicht gründlich genug von den alten Fehlern gelöst hat, dass der Sinneswandel noch nicht tief genug gegriffen hat, dass der bolzo avanti zu kurz gerät, das ist die große Sorge von Wir-sind-Kirche.

Zuletzt geändert am 29­.10.2010