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Veröffentlicht am 09­.02.2024

Zeitschrift Maria 2.0

Eine ökumenische Aufgabe

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Zur Evangelischen Missbrauchsstudie

Viele Kirchenaustritte, sinkende Kirchensteuereinnahmen, düstere Zukunftsprognosen und jetzt die unerwartet hohen Fallzahlen der evangelischen Missbrauchsstudie: In den Problemen werden sich römisch-katholische und evangelische Kirche immer ähnlicher.

Zwar sind die katholische MHG-Studie von 2018 im Auftrag der Bischofskonferenz und die jetzt veröffentlichte ForuM-Studie im Auftrag der EKD methodisch nicht vergleichbar. Aber die erschreckenden Fallzahlen in der evangelischen Kirche haben das schöne Selbstbild, die Kirchen der Reformation  seien die besseren Kirchen, zerplatzen lassen. Doch dies war zu erwarten, denn auch weltweit unterscheiden sich die Fallzahlen in den wenigen protestantischen Studien nicht wesentlich von denen im katholischen Bereich. Immer noch ist überall das Hellfeld viel zu klein und das Dunkelfeld viel zu groß. Bislang sehen wir nur die Spitze des Eisbergs und
stehen immer noch am Anfang einer grundlegenden Aufklärung und Aufarbeitung.

Reformgegner in der römisch-katholischen Kirche freuen sich nun, dass endlich auch die anderen am Pranger stehen. Das Dauernarrativ des Synodalen
Weges, nach dem Missbrauch systemische Ursachen spezifisch katholischer Prägung habe, sei endgültig vom Tisch gefegt. Es ist zwar richtig, dass es keinen monokausalen Zusammenhang von bestimmten Kirchenstrukturen zu Missbrauch und Vertuschung gibt. Es ist komplexer. Aber ungute Machtstrukturen, Pflichtzölibat, Sexualmoral und vor allem der Frauenausschluss stellen laut MHGStudie spezifische Risikofaktoren dar. „Die Tatsache, dass die Mehrheit der beschuldigten evangelischen Pfarrer verheiratet war, bedeutet aber nicht, dass der Zölibat in der katholischen Kirche keine spezifische Ermöglichungsstruktur ist“, kommentierte Professor Harald Dreßing, Leiter der MHG-Studie, der auch an der ForuM-Studie mitwirkte. Deshalb ist es nach wie vor richtig, diese Themen im Rahmen des Synodalen Weges in Deutschland zu behandeln. Interessanterweise sind diese „Reizthemen“ auch im Laufe der katholischen Weltsynode zur Sprache gekommen, die von Papst Franziskus mit einer ganz anderen Zielrichtung gestartet wurde.

Religion ist immer ambivalent. Sie kann Gewalt und Missbrauch verhindern, kann sie aber auch befördern. Der Kurzschluss, dass es ohne Klerus keinen Klerikalismus
gibt, ist unzulässig. Auch evangelische Pfarrer haben eine herausgehobene Position, wenn auch die Hierarchien flacher sind, man sich als Gemeinschaft
versteht, fast alle Leitungsämter demokratisch gewählt werden und seit 1972 Frauen Zugang zu allen geistlichen Ämtern haben. Da ist die römischkatholische
Kirche mit ihrer männerbündischen klerikalen Machthierarchie deutlich anders. Aber entscheidendes Risiko für geistliche und sexualisierte Gewalt ist die Einbindung der Betroffenen in Abhängigkeitsverhältnisse. Und die gibt es gleichermaßen in demokratischen wie in nicht demokratischen Machtstrukturen.

In einem Ergebnis sind sich MHG-Studie und ForuMStudie einig: Der Missbrauch ist ein reines Männlichkeitsproblem und insofern nicht allein ein kirchliches Problem, sondern ein Problem der gesamten Gesellschaft. Die kirchlichen Rollenmodelle von oben und unten, von Macht und Gehorsam färben auf die Gesellschaft ab. Die komplexen Verhältnisse von sexualisierten Männlichkeitsfantasien, charismatischer „Pastoralmacht“, informeller Vertrautheit und autoritären Machtstrukturen, die in beiden Kirchen anzutreffen sind, müssen sozialwissenschaftlich weiter analysiert werden, fordert der Religionssoziologe Detlef Pollack. Vielleicht sind die Kirchen mit ihren Studien in der Lage, einen gesamtgesellschaftlichen Anstoß zu geben, wie unsere Gesellschaft mit männlicher Macht umgeht und wie sie Kinder, Jugendliche und Frauen besser schützen kann. Eine neue wahrhaft ökumenische Aufgabe!

Christian Weisner

Unser Kolumnist ist Mitinitiator der internationalen Bewegung „Wir sind Kirche“, die 1995 nach dem Missbrauchsskandal um den Wiener Kardinal Hans Hermann Groër in Österreich entstand.

Zuletzt geändert am 21­.02.2024