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Veröffentlicht am 13­.06.2008

13.6.2008 - Publik-Forum

Segel setzen

Nur Fliegen ist schöner: Das neue Selbstbewusstsein der deutschen Katholiken ist unübersehbar.

Sie schauen nicht nach Rom. Ihr Schiff nimmt von Osnabrück aus Kurs auf neue Ziele

Von Britta Baas

Raum 136 im Osnabrücker Gymnasium Carolinum ist besetzt bis auf den letzten Platz. An diesem Samstagmorgen um 11 Uhr warten 30 Menschen gespannt auf den Beginn des Bibliodramas »Er führt mich hinaus ins Weite«. Frauen und Männer zwischen 16 und 76 wollen hier, im Geistlichen Zentrum des 97. Deutschen Katholikentages, mit Psalm 18 etwas über die Botschaft der Bibel und über sich selbst erfahren. Und so spielen sie den Psalm nach. Jeder sucht sich seine Rolle selbst. In einer Ecke sammeln sich mehrere Davids. Sie sind in Not und sehnen sich nach Gottes Hilfe. Gleich daneben bauen sich Feinde auf, flankiert von den Darstellern der Finsternis. Sie machen David den Weg in die Weite so richtig schwer. Und dann ist da noch eine hohe Mauer, für die sich gleich ein ganzer Schwung von Darstellern findet. Wer die Mauer überspringt, gelangt ins Chaos. Das liegt ungefähr in der Mitte des Klassenraums – wie im richtigen Leben. Eine unsichtbare Diagonale führt hinüber über die Mauer, überspannt das Chaos und endet in der Weite auf der anderen Seite. Ein paar Leute stehen da und schauen über all die Hindernisse hinweg in die gegenüberliegende Ecke. Die Weiten und die Davids lächeln sich zu: auf der einen Seite aufmunternd, auf der anderen Seite ziemlich zaghaft. Und Gott? Wo ist der eigentlich geblieben? Alle sehen sich suchend um. Und tatsächlich, Gott ist auch da: bei David in der Finsternis, im Chaos – und in der Weite. Er ist die einzige multiple Persönlichkeit in diesem Drama. Und hat damit die faszinierendste Rolle erwischt.

Das Bibliodrama im Geistlichen Zentrum bündelt wie ein Brennglas die Strahlen dieses Katholikentags. Die Davids, die Mauer, das Chaos und die Weite: All diese Rollen sind auch andernorts besetzt. Denn die Katholiken in Deutschland stehen vor einer Herausforderung, die mit der Davids durchaus vergleichbar ist. Nicht nur, dass sich die Kirchen hierzulande zusehends leeren und der Einfluss der Kirchenleitungen auf die Politik schwindet: Auch die Sinus-Milieu-Studie hat für ein innerkirchliches Schock-Erlebnis gesorgt. Danach erreicht die katholische Kirche mit ihren Angeboten nur noch wenige gesellschaftliche Milieus. Es muss sich also etwas ändern. Das ist nicht nur beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), der Laienorganisation und Hauptveranstalterin von Katholikentagen, sondern auch in der Deutschen Bischofskonferenz angekommen. In Osnabrück herrscht deshalb Aufbruchstimmung wie selten bei Katholikentagen. Die einen sind zwar noch ängstlich wie David, die anderen haben aber schon das Gefühl, produktives Chaos umgebe sie, und die Nächsten sind bereits unterwegs in eine neue Weite. Auf dem Weg dorthin lassen sie sich, so scheint es, nicht mehr aufhalten.

Schon beim Programm-Machen muss diese Weite im Blick gewesen sein: Hochoffiziell kommen Themen vor, die es zuvor höchstens an den Rand eines Katholikentags geschafft haben. So wird erstmals auf einem Podium über sexuelle Gewalt in der Kirche debattiert; entsprechend groß ist das Medieninteresse. Im Frauen- und Männerzentrum erfahren postmoderne Lebensformen überraschende Akzeptanz. Und der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, macht während einer jüdisch-christlichen Gemeinschaftsfeier unter minutenlangem Applaus deutlich, dass man sich nicht von dem durch Rom ausgelösten Streit um die Karfreitagsbitte beeindrucken lassen will. Der unselige Begriff der Juden-Mission rückt in weite Ferne, als er erklärt, die Juden seien »das Volk des nie gekündigten Bundes« Gottes mit den Menschen.

Dass der Blick in die Weite gerichtet ist, wird aber nicht nur auf innerkirchlichen Streitfeldern sichtbar. Politisch übt sich der Katholikentag einerseits in demonstrativer Kapitalismus-Kritik, anderseits in diplomatischer Strategie mit dem Ziel, die Position profilierter Katholikinnen und Katholiken auf dem Parkett der Macht zu stärken. Eine alternative Fronleichnamsprozession »Ja zum Brot – Nein zum Kapital« findet statt. Ein wirtschaftsliberaler Guido Westerwelle würdigt – man höre und staune – in einem Gespräch mit Vertretern des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) die katholische Soziallehre. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel verspricht dem Verein donum vitae, sich für eine Gesetzesänderung stark zu machen, damit Spätabtreibungen vermieden werden.

Schließlich wirft der Ökumenische Kirchentag 2010 in München seine Schatten voraus: In Osnabrück wird die Debatte um die innerchristliche Ökumene von den Notwendigkeiten der interreligiösen Ökumene überrollt. Die Davids der christlichen Kirchen sind noch immer in Not, weil ein gemeinsames Herrenmahl und eine Einigung beim Amtsverständnis in weiter Ferne sind. Aber sie suchen schon den Blickkontakt mit den Frauen und Männern aus anderen Religionsgemeinschaften: Die Existenz der religiösen Vielfalt in Deutschland, die eine Weite des Dialogs nötig macht, ist nicht mehr zu leugnen. Der Bundesgeschäftsführer der Initiative Kirche von unten (IKvu), Bernd H. Göhrig, fordert für München, in jedem Vorbereitungsgremium müsse mindestens ein Muslim sitzen. Karin von Welck, Präsidentin des kommenden Evangelischen Kirchentags in Bremen, kritisiert die aggressive Abgrenzungsstrategie des EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber gegenüber den Muslimen und entlarvt den obersten Protestanten in Deutschland als Mauerbauer. Hamideh Mohagheghi, Vorsitzende der Muslimischen Akademie in Deutschland, sieht sich nach Jahren des interreligiösen Dialogs »wieder im Chaos. Wir waren schon mal weiter«. Aber sie lacht und macht Mut: »Wir gehen unseren Weg.«

Der Katholikentag hat viel Ähnlichkeit mit dem Szenario des Psalms 18: Die Weite ist der Sehnsuchtsort, und das bisschen Chaos zwischen Finsternis und Gelobtem Land wird sich schon überwinden lassen. Segel setzen! So ist die Stimmung.

Naiv sind die Vordenkerinnen und Vordenker des Morgen dabei nicht. Die Vollversammlung des ZdK verabschiedet während des Katholikentages eine Forderung zur »Pastoral der Weite«, die konservativen Bischöfen so viel Angst macht, dass erst einmal unklar bleibt, ob sich alle Bistümer dafür öffnen. »Pastorale Laboratorien, in denen Talente sondiert werden«, soll es geben. Man dürfe nicht die Augen davor verschließen, dass die Kirche »in Ästhetik und Sprache, mit ihren Engagement- und Gemeinschaftsformen« für viele – zu viele – bereits ein »fremder Ort« geworden sei.

Aus der Feder der bischofsnahen Zdk-Vollversammlung sind solche Sätze einerseits revolutionär, andererseits eine Bedrohung für kirchliche Basisbewegungen, die über viele Jahre für sich reklamieren konnten, an der Spitze der innovativen Bewegung zu stehen. Wenn schon das ZdK so denkt, was bleibt dann beispielsweise für die Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche zu tun? Will die Bewegung, die einst aus Protest gegen ungerechte Kirchenstrukturen entstand, mehr sein als ein Spielbälle liefernder Sidekick des Hauptmoderators der Erneuerungsbewegung? Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, eine innovative Idee »von unten« zu lancieren und stark zu machen. Allein auf neue Dekrete und Verbote aus Rom zu warten, um stante pede auf sie zu reagieren, wirkt nach innen und außen zunehmend ermüdend.

Alle Mauern überwinden, fliegen lernen, hinaus ins Weite: In Raum 136 des Carolinums fragen die Dramaturgen des Dramas die Darsteller danach, warum sie die Rolle gewählt haben, die sie spielen. Eine junge Frau – höchstens 18 Jahre alt – steht mitten im Chaos. »Ich weiß noch nicht, wohin ich genau will«, sagt sie, und mehrere Chaos-Bewohner nicken: Ihnen geht es auch so. Dann fügt sie hinzu: »Ich bin auch hier stehen geblieben, weil ich so in der Nähe von David bin. Wenn ich weiß, wohin ich will, möchte ich ihn mitnehmen.« Sie schaut hinüber in die Weite: »Dorthin vielleicht – wenn er will. Da ist es schön.« Ein kleines politisches Manifest in Raum 136.


> "Für eine Pastoral der Weite" Beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 20./21. Mai 2008 in Osnabrück
Link

Zuletzt geändert am 14­.06.2008