15.5.2009 - Nürnberger Zeitung
Austrittswelle bei Katholiken und Protestanten
Den beiden großen Kirchen laufen die Mitglieder davon: Die Zahl der Kirchenaustritte ist rekordverdächtig. 1290 Nürnberger quittierten bisher in diesem Jahr beim Standesamt ihre Mitgliedschaft bei katholischer und evangelischer Kirche. «Normalerweise sind die Monate September und Dezember die mit den höchsten Austrittszahlen. Allein am letzten Arbeitstag im Dezember treten immer 40 bis 50 Leute aus, weil es dann gleich mit Ablauf des Monats wirksam wird«, erklärt ein Standesbeamter. Doch dieses Jahr gab es schon im Februar die erste Austrittswelle. Allein mehr als 200 Katholiken sagten innerhalb eines Monats ihrer Kirche Lebwohl.
Manfred Dörffel, Pressesprecher der katholischen Stadtkirche, sieht diese Entwicklung mit Sorge: «Wir sehen eine deutliche Zunahme der Kirchenaustrittszahlen, die sich im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast verdoppelt haben. Es ist natürlich etwas spekulativ, auf Gründe zu schließen. Aber nach Rückmeldungen mancher Ausgetretenen spielen neben der Wirtschaftskrise auch Dinge, die in der Kirchenleitung in Rom passiert sind, wie der Umgang mit der Piusbruderschaft, eine Rolle.« Im Februar hatte Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation der umstrittenen Hardliner mitsamt dem Holocaust-Leugner Richard Williamson aufgehoben und damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Doch bei den Protestanten sieht es nicht viel besser aus. Bis Ende Mai sind etwa 600 von ihnen ausgetreten. Eine Entwicklung, die bei den Kirchenoberen anscheinend noch nicht angekommen ist. Auf NZ-Anfrage war Pressesprecherin Silvia Jühne nicht in der Lage, aktuelle Zahlen zu bestätigen. «Wir können das aus verwaltungstechnischen Gründen nicht«, so ihre Begründung. Noch nicht einmal für 2008 lägen die Zahlen vor, die Statistik sei nicht fertig. Die hat man dafür beim Standesamt. Im Gesamtjahr 2008 verließen 2608 Menschen die beiden Kirchen, davon 1139 Katholiken. Inwieweit aktuelle Entwicklungen im Vatikan bei Einzelnen den Entschluss zum Austritt befördern, ist nach Ansicht von Katholiken-Sprecher Dörffel Spekulation, doch diskutiert werden die Entscheidungen durchaus kontrovers – wie auch die neueste Anordnung.
Nach einem neuen Verdikt aus dem Vatikan dürfen die katholischen Bischöfe kritische Katholiken, die sich im Kirchenvolksbegehren «Wir sind Kirche« engagieren, aus den Gremien der Kirche ausschließen. Damit bekommt der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller Recht, der dies mit kritischen Laien in seinem Bistum praktiziert hat. Dazu Dörffel: «Die Entscheidung gilt nicht nur für das Bistum Regensburg, sondern generell. Sie lässt aber dem jeweiligen Diözesanbischof die Entscheidungskompetenz, inwieweit er davon Gebrauch machen will oder nicht, so habe ich es verstanden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Nürnberg große Auswirkungen haben wird.« Die Organisation «Wir sind Kirche« spiele hier keine große Rolle, diskutiert werde in der Stadt traditionell sehr offen. Vielleicht dieses Jahr darüber, warum so viele Menschen trotz Krise ihr Heil außerhalb der Kirchen suchen. (Sabine Göb)
Aus: Nürnberger Zeitung, 15.6.2009 Quelle: http://www.nz-online.de/artikel.asp?art=1034269&kat=11
Zuletzt geändert am 15.06.2009