11.2.2010 - welt-online.de
Wie hoch ist die Zahl pädophil veranlagter Priester?
Seit dem Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg ist eine Debatte über den Umgang der Kirche mit Sexualität entbrannt. Häufig wird angenommen, solche Fälle seien ein spezifisch katholisches Phänomen wegen des Zölibats. Doch das stimmt nicht, wie die wichtigsten Fakten zum Thema zeigen.
Der Brief hatte zwei Seiten und war mit dem 19. Januar datiert. Der Absender: Pater Klaus Mertes, Rektor des renommierten Berliner Canisius-Kollegs. Die Empfänger: 600 ehemalige Schüler des elitären Jesuitengymnasiums. Mit „tiefer Erschütterung und Scham“, schrieb Mertes, habe er „diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen“. Damit nahm eine in Deutschland bislang beispiellose Welle von Enthüllungen über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche ihren Anfang. Innerhalb weniger Tage meldeten sich nicht nur in Berlin 40 ehemalige Schüler, die von Missbrauch in den 70er- und 80er-Jahren berichteten, auch aus dem Aloisius-Kolleg in Bonn, der ebenfalls vom Jesuitenorden geführten Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg oder dem Kolleg Sankt Blasien im Schwarzwald wurden Fälle bekannt.
Doch auch das war, musste man den Eindruck gewinnen, nur die Spitze eines weitreichenden Missbrauchsskandals. Seit 1995 hätten mindestens 94 Kleriker und Laien in der katholischen Kirche mutmaßlich Kinder missbraucht, berichtete der „Spiegel“ nach einer Umfrage bei allen 27 deutschen Bistümern. Unisono verurteilten deutsche Bischöfe und andere kirchliche Würdenträger bis hinauf zum Papst die Vorfälle, schonungslose Aufklärung wurde gefordert, Vertuschung und Verschleierung wurden angeprangert und über Konsequenzen beraten. In atemberaubender Geschwindigkeit entspann sich eine Debatte, die sich zwischen einer fast völligen Absolution („bedauerliche Verfehlungen Einzelner, die nicht zu einer Vorverurteilung führen dürfen“) und der Darstellung der Kirche als Hort weitverbreiteten Päderastentums bewegt.
Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Komplex:
* Ist der Missbrauch der Jesuiten-Schüler ein spezifisch katholisches Phänomen?
Nein. Involviert ist zunächst der Orden der Jesuiten. Genauer: Es handelt sich um das Fehlverhalten einzelner Patres. Missbrauch von Kindern und Heranwachsenden gibt es zum Beispiel in Familien, aber auch in Sport- und Freizeitverbänden. Sachverständige schätzen, dass allein im Familienverband 75 Prozent dieser Verfehlungen vorkommen, auch andere Religionsgemeinschaften sind betroffen. In Deutschland wurden seit 1995 rund 210000 Fälle von Kindesmissbrauch polizeilich registriert. In Amerika hat die Zeitung „Christian Science Monitor“ das Ergebnis einer Untersuchung veröffentlicht, wonach die Quote pädophiler protestantischer Geistlicher und Kirchenmitarbeiter mit zwei bis drei Prozent über der katholischer Priester liegt.
* Bemüht sich die katholische Kirche in Deutschland ausreichend um Aufklärung?
Sie musste erst lernen, damit umzugehen. Bis zu der Serie öffentlich gewordener Missbrauchsskandale in den USA hatte man geglaubt, davon verschont geblieben zu sein. Das war ein Irrtum. Deshalb verabschiedete die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) 2002 eine Leitlinie zum „Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche“. Sie sieht vor, dass eine vom Bischof beauftragte Person einschlägige Vorwürfe prüft und als Ansprechpartner für die Strafverfolgungsbehörden fungiert.
Einmal straffällig gewordenen Priestern werden keine Aufgaben mehr übertragen, die sie in Verbindung mit Kindern und Jugendlichen bringen. Pastoraltheologen und die amtskirchenkritische Bewegung „Wir sind Kirche“ bemängeln allerdings, dass in einzelnen Bistümern hohe Geistliche, denen die notwendige Distanz zu Tatverdächtigen fehle, immer noch als Ansprechpartner tätig seien. Es müssten unabhängige Personen beauftragt werden. Seit 2002 unterhält „Wir sind Kirche“ ein Notruf-Telefon.
* Sind „unabhängige“ Ansprechpartner tatsächlich die Lösung?
Auch sie wären von der Kirche beauftragt. Wirkliche Unabhängigkeit, sagt deshalb der Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke, garantiere nur die Staatsanwaltschaft.
* Wie hoch ist die Zahl pädophil veranlagter Priester?
Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Von den rund 18000 katholischen Geistlichen in Deutschland, so schätzte 2005 der inzwischen emeritierte Essener Weihbischof Franz Grave, hätten zwei Prozent pädophile Neigungen. Dabei bedarf es noch einer Unterscheidung. Nach jüngeren Schätzungen gibt es 300 pädophil (Neigung zu Kindern) oder ephebophil (Neigung zu Heranwachsenden) veranlagte Priester. Für den Therapeuten Wunibald Müller (Münsterschwarzach) überwiegen bei Weitem die ephebophilen Fälle.
* Wie können junge Menschen vor sexuellem Missbrauch durch Geistliche geschützt werden?
2008 hat der Vatikan neue Richtlinien für die Aufnahme ins Priesterseminar erlassen. Sie sehen psychologische Tests für Weihekandidaten vor. Vom Bischof eingesetzte Ausbilder haben ein „moralisch einwandfreies Urteil“ zu fällen. Es soll mehr Wert auf die Förderung der emotionalen Reife gelegt werden, denn es hat sich bei Experten die Einsicht durchgesetzt, dass das katholische Priesteramt hoch attraktiv für Menschen ist, die in ihrer sexuellen Entwicklung auf einer kindlichen oder pubertären Stufe stehen geblieben sind. Die DBK verlangte schon 1988, dass die Kandidaten sich mit sich selbst auseinandersetzen. Und in den Leitlinien von 2002 heißt es: „Die Aus- und Fortbildung der Geistlichen ? vermittelt Kenntnisse über Anzeichen sexuellen Fehlverhaltens und gibt Hilfen für den Umgang mit der eigenen Sexualität.“
* Lässt sich die sexuelle Orientierung ändern?
Nach bisherigen Erkenntnissen nicht, sagt der Jesuit und Publizist Eckhard Bieger (Frankfurt/Main). Die Täter brauchten Begleitung. Bisher gibt es nur an der Berliner Charité ein auf die Problematik spezialisiertes Institut. Bieger: „Es müsste mehr davon in Deutschland geben. Wenn die Bischöfe über sexuellen Missbrauch beraten, könnten sie auch zur Schlussfolgerung kommen, dass die Kirche ein solches Institut braucht.“ Wie der Charité-Mediziner Klaus Beier berichtet, wenden sich „leider nur vereinzelt“ Geistliche an seine Einrichtung. Vom 22. bis 25. Februar wird die DBK in Freiburg darüber diskutieren, ob ihre Leitlinien überall konsequent eingehalten werden.
* Könnte die Aufhebung des Zölibats sexuellem Missbrauch entgegenwirken?
Eine Garantie wäre das nicht. Es wäre problematisch anzunehmen, eine Partnerschaft könne zur Abwendung sexueller Verfehlungen dienen. Hier stellt sich wieder das Generalproblem: sexuelle Unreife. Die Betroffenen wollen und können vielleicht auch gar nicht in einer Ehe leben. Im Fall der Jesuiten ist noch etwas anderes entscheidend. Als Ordensleute haben sie sich auf die drei Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam verpflichtet.
In der christlichen Tradition von West und Ost funktioniert Ordensleben nur mit Unverheirateten. Eckhard Bieger betont, einen Orden aus Verheirateten, die unter einem Dach leben, „gibt es allenfalls bei Sekten“. Andererseits wird weiter darüber diskutiert, ob es nicht zu einer Lockerung des Zölibats der Weltpriester kommen sollte. Der Frankfurter Jesuitenpater Friedhelm Mennekes befürwortet sogar, „als zweiten Schritt“ über die Öffnung des Priesteramtes für Frauen nachzudenken: „Sonst fährt das System gegen die Wand.“
Die Missbrauchsfälle haben die kirchliche Debatte über Homosexualität befeuert, obwohl zwischen Homosexualität und Homophilie genau unterschieden werden muss.
* Wie hoch ist der Anteil Homosexueller an der Gesamtzahl katholischer Priester?
Etwa 20 Prozent, schätzen seit Jahren kirchliche Experten. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle homosexuellen römisch-katholischen Geistlichen ihre Neigung auch ausleben.
* "Geistliche Begleiter“ sollen Kandidaten mit homosexuellen Neigungen vom Priesteramt abhalten. Eine richtige Entscheidung?
Das wird von Pastoraltheologen bezweifelt. Der Leipziger Jesuit Hermann Kügler warnt vor „Gesinnungsschnüffelei“. Sollte dieses Verfahren wider Erwarten funktionieren, müssten in manchen Jahrgängen bis zu 40 Prozent der Kandidaten ausscheiden. Es sei schwierig, eine solche „tief verwurzelte Neigung“ zu messen. Das entsprechende römische Dokument hatte das offengelassen. Kügler nennt es zudem „diskriminierend“, wenn man homosexuellen Menschen unterstelle, sie seien verkappte Kinderschänder. Pädophilie gebe es genauso unter Hetero- oder Bisexuellen.
* Hat die katholische Kirche ein veraltetes Verständnis von Homosexualität?
Der Rektor des Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, meinte, die Kirche leide an Homophobie. In ihrem 1992 veröffentlichten Katechismus differenziert die Kirche: Homosexuelle werden nicht mehr direkt als Sünder angesehen, eher als Kranke. Ihre Handlungen seien „objektiv ungeordnet“, sie verstießen gegen das „natürliche Gesetz“.
Jenen Personen aber, die „diese Veranlagung nicht selbst gewählt“ haben, müsse mit „Achtung, Mitleid und Takt“ begegnet werden. Rom lehnt es also weiter ab, Homosexualität als eine normale Variante sexuellen Verhaltens zu deuten. Doch ist die Diskussion in Fluss. So bezog schon das katholische „Lexikon für Theologie und Kirche“ eine weichere Position. Eine grundsätzliche Verwerfung gleichgeschlechtlichen Verhaltens sei dort problematisch, „wo die Betroffenen ihre Homosexualität in eine dauerhafte, auf personale Bindung gerichtete partnerschaftliche Beziehung integrieren“. Gleichwohl hat gerade Papst Benedikt XVI. in jüngster Zeit mehrere Länder wegen der Anerkennung homosexueller Partnerschaften getadelt.
Bischöfe argumentieren, Homosexualität werde in der Bibel verworfen, also könne die Kirche nur diesen Standpunkt beziehen.
Viele, auch katholische Theologen deuten die biblischen Urteile im geschichtlichen Kontext des alten Orients. In der Heiligen Schrift werden Homosexuelle eigentlich als Heterosexuelle gesehen, die sich aus perversen Neigungen homosexuell verhielten. „Das wird abgelehnt“, sagt zum Beispiel Hermann Kügler. „Doch genetisch bedingte Homosexualität kennt die Bibel nicht.“
Zuletzt geändert am 29.01.2014