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Veröffentlicht am 11­.02.2010

11.2.2010 - Rheinischer Merkur

Institution am Pranger

Im Fokus stehen die Schulen des Jesuitenordens, doch die Vorgänge sind zu einer Belastung der ganzen Kirche geworden. Auch der Zölibat wird wieder in die Debatte geworfen – zu Unrecht.

VON RUDOLF ZEWELL

Das Canisius-Kolleg liegt im Tiergarten im Zentrum Berlins. Das Gymnasium mit sprachlichem Schwerpunkt ist eine staatlich anerkannte Schule in freier Trägerschaft. Das Kolleg gehört zum internationalen Verbund der Jesuitenschulen.

Jemand, der sich an Kindern vergeht, begeht ein schweres Verbrechen. Sind Priester die Täter, kommt zur Traumatisierung des Opfers noch hinzu, dass dieser Mensch womöglich sein Leben lang nicht mehr den Glauben an einen guten Gott findet. Nun also ist dieses Thema auch über die katholische Kirche in Deutschland mit voller Wucht hereingebrochen. Die Öffentlichkeit fordert schonungslose Aufklärung. Die Offenheit, mit der der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, der Jesuitenpater Klaus Mertes, länger zurückliegende Missbrauchsfälle an dieser Schule aufarbeitet, ist für viele Menschen beispielhaft.

Sein Vorgehen löste eine Welle aus. Weitere Fälle wurden an Schulen und Internaten der Jesuiten in Bonn, Hamburg, und St. Blasien bekannt. Der Rektor des Bonner Aloisius-Kollegs, Pater Theo Schneider, hat in dieser Woche seinen Rücktritt erklärt, um so, wie er sagt, eine „lückenlose Aufklärung“ aller Vorwürfe, auch gegen ihn selbst, zu ermöglichen. Bislang ist hier von zwölf Fällen von sexuellem Missbrauch durch Lehrer die Rede.

Mertes hatte allen ehemaligen Schülerinnen und Schülern des Berliner Canisius-Kollegs geschrieben, um die Vorfälle aufzuklären und sich im Namen der Schule bei den Opfern zu entschuldigen. Bislang haben sich mehr als 30 ehemalige Schüler gemeldet, die vor allem in den 70er- und 80er-Jahren Opfer von Übergriffen geworden seien. „Es werden noch mehr“, vermutet die Anwältin Ursula Raue, die vom Jesuitenorden mit der Untersuchung der Berliner Fälle beauftragt worden ist. „Ich nehme mir Zeit, um den Opfern zuzuhören oder ihre Mails zu beantworten. Es ist ganz wichtig, dass sie anders als damals ernst genommen werden“, sagt Raue.

Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft zurzeit 20 Missbrauchsfälle. „Die Taten sind verjährt“, sagt ein Sprecher der Behörde. Die Verjährungsfrist für diese Form sexuellen Missbrauchs beträgt zehn Jahre ab dem 18. Geburtstag des Opfers. Auch mögliche, den Orden treffende Vorwürfe unterlassener Hilfeleistung sind verjährt.

Für Mertes geht die Aufarbeitung, auch wenn sie bitter ist, weiter. Er setzt seine Kritik am „desaströsen System der Vertuschung“, der jahrelangen Geheimhaltung an. Es gehe also nicht nur um das moralische Versagen der Täter, sondern auch um das Versagen der Schule und des Ordens. „Die große Schuld, die die Institution auf sich geladen hat, ist, dass sie nicht genau hingeschaut hat, als sie etwas davon hörte.“ Mehrere Opfer hatten bereits 1981 einen Brief an die kirchlichen Autoritäten geschrieben, der aber ohne Antwort blieb. Wie Mertes in einer Mail an die Eltern der Schüler berichtet, wird er das Thema auch auf der Ebene des Gesamtordens vertreten: Der Provinzial habe ihn gebeten, in den nächsten Wochen auch einen großen Teil der Pressearbeit zu übernehmen, „um zu den Fragen Rede und Antwort zu stehen, die sich nun an den Orden als Ganzes stellen, nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland.“

Nicht nur von den Medien werden generelle Fragen an die Kirche aufgeworfen und ihre Strukturen für die Missbrauchsfälle verantwortlich gemacht, auch innerhalb des katholischen Spektrums werden die aktuellen Vorfälle mit immer wieder thematisierten Reizthemen in Verbindung gebracht. So fordert der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), Dirk Tänzler, eine offene Debatte über den Umgang der Kirche mit Sexualität und die Auswirkungen des Zölibats: „Die Kirche muss sich fragen lassen, ob bestimmte Strukturen solche Missbrauchsfälle vielleicht sogar fördern.“ Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, sieht einen Zusammenhang zwischen den aktuellen Vorwürfen gegen Geistliche an Schulen der Jesuiten und einem Tabuisieren von Sexualität in der Kirche, warnt aber davor, Priester und Ordensleute einem Generalverdacht auszusetzen. Zudem sei es unverantwortlich, wenn Medien jetzt durch reißerische Beiträge die Bildungs- und Jugendarbeit der Kirche insgesamt in Misskredit bringen wollten. Auch Benedikt XVI. habe sich immer wieder „beispielhaft“ für die Aufklärung von Missbrauchsfällen eingesetzt.

Nach Einschätzung der Basisbewegung „Wir sind Kirche“ begünstigen die strikte Sexualmoral, ein überhöhtes männliches Priesterbild und autoritäre hierarchische Strukturen in der Kirche sexuellen Missbrauch. „Wenn es nicht zu einem Pauschalverdacht gegenüber allen Priestern, Ordensleuten und kirchlichen Einrichtungen kommen soll, muss die angstbesetzte kirchliche Sexuallehre und müssen die kirchlichen Strukturen auf den Prüfstand“, fordert die Bewegung.

Viele haben in diesen Tagen etwas zum Thema zu sagen. Jeder hat eine dezidierte Meinung, aber nicht alle sind Experten. Hans Küng kommt mit seiner Kritik an der Kirche im „Spiegel“ zu Wort, im WDR-Fernsehen äußert sich der einstige Jesuitenschüler in St. Blasien und spätere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler über die Vorfälle: „Ich habe so etwas nie erlebt und von so etwas auch nie gehört, ich würde sagen, das, was da aufgedeckt wurde, ist atypisch für den Jesuitenorden.“ Neu und positiv sei, dass die Führung der Jesuiten sich an die Öffentlichkeit gewandt habe. Dann kommt auch er auf den für ihn springenden Punkt: „Die Kirche muss endlich den Zölibat abschaffen und muss sich befreien, wie das die evangelische Kirche auch getan hat.“

Was aber hat der Zölibat mit pädophilen Neigungen zu tun? Diese Verbindung gebe es nicht, sagt der Psychiater Manfred Lütz, Chefarzt am Alexianer-Krankenhaus in Köln, und beruft sich auf die geballte Kompetenz eines internationalen wissenschaftlichen Kongresses zum Thema in Rom, den er moderierte. Der Tenor der Experten dort: „Niemand wird durch den Zölibat pädophil. Es gibt keinerlei seriöse wissenschaftliche Hinweise darauf, dass etwa Priester häufiger pädophiles Verhalten zeigen als andere mit Jugendlichen befasste Berufsgruppen.“

Die Emotionen gehen hoch, die Vereinfachungen haben Konjunktur. Klar ist: Jeder einzelne Fall von Kindesmissbrauch ist einer zu viel. Wer hohen moralischen Anspruch erhebt wie die Kirche, muss sich bei Verfehlungen von Priestern besonders harte Fragen gefallen lassen. Das alles sollte eine kritische Öffentlichkeit nicht davon abhalten, die Dimensionen zu beachten, um die es in der gegenwärtigen Diskussion geht. Dem „Spiegel“ zufolge haben sich seit 1995 bundesweit 94 Kleriker und Laien innerhalb der katholischen Kirche des Missbrauchs verdächtig gemacht. Das gehe aus einer Umfrage unter allen deutschen Diözesen hervor.

Hans-Ludwig Kröber, Professor für Forensische Medizin an der Berliner Charité, stellt diese Zahl in einen größeren Zusammenhang: Kindesmissbrauch komme bei kirchlichen Mitarbeitern viel seltener vor als bei anderen Erwachsenen. Nicht zölibatär lebende Männer, so der Experte, würden mit einer 36-mal höheren Wahrscheinlichkeit zu Missbrauchstätern als katholische Priester. Insgesamt hat es in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland 210 000 polizeilich erfasste Fälle von Kindesmissbrauch gegeben. Gerade die vom „Spiegel“ ermittelten Zahlen zeigten, so Kröber, dass die Geisteshaltung, in der Priester lebten, sie weitgehend davor schütze, zu Tätern zu werden.

Der Berliner Mediziner spricht von der Gefahr, dass die katholische Kirche in eine Art „Selbstgeißelungsfuror“ gerate wie im Zuge der Aufdeckung von Missbrauchsfällen in den USA im Jahr 2002. Keineswegs dürften aus Angst vor neuem Unrecht Anschuldigungen ungeprüft hingenommen werden. Auch Opfer müssten akzeptieren, dass ihre Vorwürfe geprüft würden.

Eine Skandalisierung liegt in der Natur des Themas, doch es gibt eben auch Fakten, die zeigen, dass die katholische Kirche heute keineswegs auf eine „Vertuschungspolitik“ setzt. Einzelfälle werden wohl nie auszuschließen sein. Doch die Kirche hat – auch angesichts der scharfen Reaktion des Vatikans auf Kindesmissbrauch in den USA – im Jahr 2002 Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen erlassen. „Wir ducken uns nicht weg, wir wollen die Aufklärung“, sagt der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, der Jesuitenpater Hans Langendörfer.

Das Thema Missbrauch wird auch die Vollversammlung der Bischofskonferenz beschäftigen, die in zwei Wochen zusammentritt. Es könnte dort unter anderem um die Vorgaben für Ausbildung und Begleitung der Priester gehen. „Wir müssen uns fragen, ob die Leitlinien der Bischöfe von 2002 zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch durch Geistliche bereits optimal umgesetzt werden. Vielleicht muss die Prävention trotz aller Fortschritte noch besser werden“, sagt Langendörfer. Als erster Bischof ist Norbert Trelle von Hildesheim in einem eindringlichen Hirtenbrief, der am Sonntag in den Gottesdiensten verlesen wurde, auf Missbrauchsfälle im Bistum eingegangen.

Der Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke sieht die Kirche beim Umgang mit Missbrauchsfällen insgesamt gut aufgestellt. Die Leitlinien hätten sich bewährt. Sie sehen eine Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft vor und berücksichtigen die strafrechtliche Relevanz solcher Taten. Das sei früher anders gewesen. Das Kirchenrecht kennt keine Geld- und Freiheitsstrafen, sondern nur disziplinarische Möglichkeiten. Geistliche mit pädophiler Neigung könnten so aus dem Klerikerstand entlassen werden.

Lüdicke verteidigt die Praxis in der Kirche, potenzielle Missbrauchsfälle erst einmal unter Geheimhaltung zu behandeln. Dies diene dem Schutz des Verdächtigten. Eine Falschanzeige gegen einen Kleriker sei „ein scharfes Schwert“. Auch der Direktor des Jesuiten-Kollegs St. Blasien, Pater Johannes Siebner, verteidigt die Kirche gegen den Vorwurf, Missbrauchsfälle zu vertuschen. Die Leitlinien sähen deutlich vor, „dass sehr schnell der Schritt nach draußen geht“.

Zuletzt geändert am 11­.02.2010