8.2.2010 - welt-online.de
Schweigen als System
Berlin - In den Gottesdiensten gestern wurde das heikle Thema teilweise offen und kritisch angesprochen - ansonsten scheint die katholische Kirche den sexuellen Missbrauch durch Geistliche totzuschweigen. Deshalb werden jetzt Stimmen laut, die nicht nur die Täter, sondern auch das vertuschende System angreifen.
In der katholischen Kirche ist seit 1995 gegen 94 Priester und Laien wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt worden. Dies ergab eine am Wochenende veröffentlichte Umfrage des Nachrichtenmagazins "Spiegel" bei allen 27 deutschen Bistümern. Viele Fälle seien zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens jedoch bereits verjährt gewesen. Aktuell stünden mindestens zehn Kirchendiener unter Missbrauchsverdacht. Die aktuelle Ausgabe des Nachrichtenmagazins sorgt für Aufregung, weil auf dem Cover die Hand eines Geistlichen nahe am Geschlechtsteil anliegt.
Klaus Mertes, der Leiter der Jesuitenschule Canisius-Kolleg in Berlin, plädierte dafür, die jahrelange Geheimhaltung stärker in den Mittelpunkt zu stellen. "Das Problem ist, dass sich die öffentliche Debatte schnell zuspitzt auf die Täter und dadurch der zweite Aspekt des Missbrauchs überhaupt gar nicht in den Blick kommt", sagte er in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Die Frage sei doch, warum vertuscht werde. "Doch nicht, weil die Vertuscher pädophil sind!", sagte er. "Weil das vertuschende System Interessen hat und Ängste."
Mertes hatte im Januar Fälle von sexuellem Missbrauch im renommierten Canisius-Kolleg öffentlich gemacht. Demnach wurden zwischen 1975 und 1983 Schüler systematisch von drei Patres missbraucht. Mertes hatte allen ehemaligen Schülerinnen und Schüler der fraglichen Jahrgänge geschrieben, um die Aufklärung voranzutreiben und sich im Namen der Schule bei den Opfern zu entschuldigen. "Die große Schuld, die die Institution auf sich geladen hat, ist, dass sie nicht genauer hingeschaut hat, als sie etwas davon hörte", sagte er. Mehrere Opfer hätten bereits 1981 einen Brief an die Kirche geschrieben, der unbeantwortet geblieben sei. Es gehe jetzt darum, dass die Opfer gehört würden. Unterdessen werden immer mehr Fälle an Schulen des Jesuitenordens bekannt. Am Berliner Canisius-Kolleg hätten sich inzwischen 30 ehemalige Schüler gemeldet, die zwischen 1960 und 1980 Opfer von Übergriffen wurden, zitiert der "Tagesspiegel" die Missbrauchsbeauftragte des Ordens, Ursula Raue. Hinzu kommen laut der Rechtsanwältin bis zu zehn weitere Fälle in Bonn, Hamburg, Hannover und St. Blasien. Am Bad Godesberger Aloisiuskolleg gebe es einen zweiten Fall. Bereits 2004 habe ein ehemaliger Schüler ein Buch veröffentlicht, in dem er den Missbrauch durch Priester schildert.
Die Deutsche Bischofskonferenz erwägt deshalb Änderungen bei der Ausbildung und Begleitung von Pfarrern. Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, sagte der "Frankfurter Rundschau", wo Studenten und Priester noch nicht ausreichend unterstützt würden, "in ihre sittliche Weiterentwicklung auch die Sexualität einzubeziehen, müssen wir nach Verbesserungen suchen". Er erlebe ein Gesicht seines Ordens, das ihn sehr erschrecke. Zudem wehrte sich Langendörfer dagegen, die katholische Moral und den Zölibat der Priester für den Kindesmissbrauch verantwortlich zu machen. "Der Zölibat schafft keine Missbrauchstäter", betonte er.
Nachdem auch in Niedersachsen Missbrauchsfälle durch Jesuiten-Pater bekannt geworden waren, wurde in den Gottesdiensten im katholischen Bistum Hildesheim gestern ein Brief von Bischof Norbert Trelle verlesen. Darin spricht Trelle den Opfern sein "tief empfundenes Mitgefühl" aus. Die Fälle erfüllten ihn mit Scham und Empörung und bedrückten ihn zutiefst, schreibt Trelle. Das Bistum werde alles tun, um für Aufklärung zu sorgen. "Allen Opfern bieten wir Begleitung und Hilfe an." Zum Schluss seines Briefes bittet Trelle, vom Einzelfall nicht auf einen ganzen Berufsstand zu schließen. "Die ganz große Mehrheit unserer Priester versieht ihren Dienst mit Anstand und großer Achtung vor den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen." Die katholische Basisinitiative "Wir sind Kirche" forderte am Sonntag, die Ursachen für sexuellen Kindesmissbrauch an katholischen Schulen zu bekämpfen.
Nach Einschätzung von "Wir sind Kirche" begünstigen die strikte Sexualmoral, ein überhöhtes männliches Priesterbild und autoritäre hierarchische Strukturen sexuellen Missbrauch. "Wenn es nicht zu einem Pauschalverdacht gegenüber allen Priestern, Ordensleuten und kirchlichen Einrichtungen kommen soll, muss die angstbesetzte kirchliche Sexuallehre und müssen die kirchlichen Strukturen auf den Prüfstand", forderte die Bewegung.
Zuletzt geändert am 11.02.2010