16.2.2010 - FOCUS Online
Missbrauch in der Kirche. „Es werden immer mehr“
Von FOCUS-Online-Redakteur Florian Festl Ursula Raue hat dieser Tage mächtig Stress. Sie bereitet einen Bericht zu den zahlreichen Missbrauchsfällen bei den Jesuiten vor. Seit Jahren schon untersucht die Berliner Rechtsanwältin im Auftrag des Ordens das System aus Übergriffen, Vertuschung und Versetzungen verdächtiger Patres. Sie sichtet Akten, spricht mit den Tätern, den Opfern und den führenden Jesuiten in Deutschland – und gewinnt allmählich einen Überblick.
Seit Ende Januar aber der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, die schmutzigen Spiele der Ordensleute öffentlich machte, weiß Raue nicht mehr, ob sie ihre Erkenntnisse am Ende eines Tages nicht schon wieder über den Haufen werfen muss. Berlin, Hamburg, St. Blasien, Hildesheim, Bonn – vielerorts vergriffen sich Jesuiten an Kindern. „Es melden sich täglich neue Opfer. Es werden immer mehr“, sagt Raue zu FOCUS Online. In etwa 100 Betroffene sollen es mittlerweile sein, die Dunkelziffer liegt weit höher.
Bis zu zehn Schreckensberichte am Tag
„Auch heute gab es wieder Turbulenzen“, sagt Raue am Dienstag. Sie sagt das möglichst neutral, weil sie die Opfer schützen und nicht zu viel erzählen will – und auch, weil sie das Gehörte selbst erstmal einordnen muss. Schon frühmorgens wählen Menschen ihre Nummer, denn Raue ist seit Wochen als erste Aufklärerin in der Presse, und ihre Bekanntheit wächst. Die Menschen fassen Vertrauen zu der Frau, die seit langem gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen kämpft und früher Vorsitzende der Organisation „Innocence in Danger“ war. Manche der Anrufer reden zum ersten Mal nach Jahrzehnten des Verdrängens über ihre peinigenden Erfahrungen. „Sie brauchen Zeit, um ihre Geschichte zu vermitteln“, sagt Raue. Zehn solcher Schreckensberichte hört sie an „turbulenten Tagen“.
Was bei den Jesuiten begann, zieht inzwischen Kreise in weiten Teilen der katholischen Kirche. Längst wird wieder die Diskussion über den Zölibat als triebfeindliches Instrument geführt, das Geistliche zu Kinderschändern mache. Kirchenkritiker wie Eugen Drewermann werden wieder gehört, die seit Jahrzehnten den Zölibat als kardinalen Fehler der katholischen Kirche brandmarken. Auch Laienbündnisse wie „Kirche von unten“ oder „Wir sind Kirche“ fordern vehement ein Ende der verbiesterten Sexualmoral in der Amtskirche.
Und wenn der Papst mit Bischöfen über den irischen Missbrauchsskandal spricht, fühlt sich nun auch Deutschland angesprochen. Es wächst die Einsicht, dass auch hier keine Einzelfälle vorliegen. Zahlen aus anderen Ländern, in denen die Mauern des Schweigens schon früher einkrachten, lassen davon ausgehen, dass bis zu zwei Prozent der katholischen Kleriker Päderasten sind. Das wären Hunderte in Deutschland, die Gefahr eines Generalverdachts steigt – für die überwiegend unbescholtenen Geistlichen eine extrem belastende Situation.
Auch bei Rechtsanwältin Ursula Raue melden sich längst nicht mehr nur Abgänger von Jesuiten-Schulen. Die Opfer der katholischen Kirche finden sich auch in anderen Orden und in anderen Gemeinden. Raue hört zu und sammelt die Daten hinter den Einzelschicksalen. „Wenn es die Anrufer möchten, leite ich ihre Angaben zu einem späteren Zeitpunkt weiter.“ Viele aber wollen nicht, dass Behörden oder die Kirche nachfragen, für sie ist es bereits eine große Erleichterung, im Gespräch mit Raue das Schweigen gebrochen zu haben und zu sehen, dass sie nicht alleine mit ihren Erlebnissen sind.
„Scham und Trauer ausdrücken“
Die Jesuiten müssen sich mit den schwarzen Flecken in ihrer Vergangenheit befassen. Der Orden dankt ausdrücklich den Menschen, „die uns durch ihr Sprechen ein Hinsehen auf unsere Vergangenheit erlauben“. Dadurch werde „die Möglichkeit der Umkehr und der Erneuerung eröffnet“. Am Abend des Aschermittwochs laden die Berliner Jesuiten zu einem Trauergebet: „Wir möchten im stillen Gebet vor Gott und der Öffentlichkeit unsere Scham und Trauer ausdrücken über die Schuld einzelner Jesuiten und die Katastrophe institutionellen Wegsehens.“
Nicht stille Trauer, sondern Aufregung und Empörung werden am Donnerstag wieder dominieren. Ganz Deutschland wird zu den Jesuiten nach Berlin schauen, wenn dort Ursula Raue die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vorstellt: „Die Dinge sind in Bewegung geraten“, sagt Raue. „Somit kann es natürlich nur eine Zwischenbilanz sein.“
Zuletzt geändert am 16.02.2010