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Veröffentlicht am 26­.07.2010

26.7.2010 - glaubeaktuell

Umgang mit sexualisierter Gewalt - Gelungener Neuanfang oder halbherziges Lavieren? - Ein halbes Jahr nach dem Berliner Canisius-Kolleg (28.1.2010)

Pressemitteilung von Wir sind Kirche

(München/wsk) - „Wie ist es um die von den Bischöfen versprochene ‚lückenlose und absolut transparente Aufklärung’ und den angekündigten ‚Neuanfang’ bestellt? Wurde all das, was angekündigt und versprochen wurde, auch schon umgesetzt? Reicht das, was die Bischöfe und Ordensgemeinschaften in den letzten sechs Monaten geleistet haben, aus? Was bleibt im Sinne der Betroffenen und für die zukünftige Prävention noch zu tun?“ Diese Fragen stellt die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche ein halbes Jahr nach dem 28. Januar 2010, dem Tag, an dem die Jesuiten des Berliner Canisius-Kolleg mit ihrem mutigen Schritt an die Öffentlichkeit den entscheidenden Anstoß gegeben haben, dass das jahrzehntelang vertuschte Ausmaß körperlicher und sexualisierter Gewalt innerhalb der Kirche auch in Deutschland offenbar wurde.

Dabei geht es nicht darum, die römisch-katholische Kirche an den Pranger zu stellen. Aber es wäre für die Betroffenen wie für die Kirche als Ganzes fatal, wenn das Thema – so komplex und schwierig es auch ist – aus der öffentlichen Debatte verschwinden würde, bevor eine grundsätzliche Lösung gefunden ist. Damit würde auch die Chance vertan, einen Beitrag zur Sensibilisierung für Gewaltstrukturen in Familien und anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu leisten. Ziel muss es sein, über die ganz konkreten Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen hinaus den Teufelskreis von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt zu durchbrechen. Nur so kann der drohenden Gefahr des Pauschalverdachts gegenüber allen Priestern, Ordensleuten und kirchlichen Einrichtungen wirksam begegnet werden.

An die katholischen Bischöfe und Ordensleitungen sind derzeit vor allem folgende konkrete Fragen zu stellen:

- Wird die am 30. März 2010 eingerichtete Telefon-Hotline für Opfer sexuellen Missbrauchs (die nach derzeitigem Stand bis September 2011 befristet ist) den Erwartungen der Betroffenen gerecht?

- Wie und wo werden die Erfahrungen aufbereitet und ausgewertet?

- Werden darin auch die Erfahrungen z.B. des seit 2002 betriebenen Not-Telefons der KirchenVolksBewegung einbezogen?

- Wo bleibt der angekündigte Gesamtbericht über die Situation in allen deutschen Diözesen, den Bischof Dr. Ackermann als Sonderbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) für alle Fragen im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich geben sollte?

- Wie steht es um die bis zum Sommer 2010 angekündigte Überarbeitung der bischöflichen Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen?

- Wie verbindlich werden diese Leitlinien sein, die in den einzelnen Bistümern bislang sehr unterschiedlich gehandhabt werden?

- Gibt es mittlerweile in allen Diözesen und Orden qualifizierte AnsprechpartnerInnen und Hilfsangebote, die die notwendige Distanz zu möglichen Tatverdächtigen haben?

- Wie ist es um die Offenheit und Informationspolitik seitens der Bischofskonferenz bestellt?

- Wurde – analog zu den USA – auch in Deutschland eine Studie zu den Ursachen und zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im kirchlichen Bereich in Auftrag gegeben bzw. ist eine solche geplant?

- Werden dabei auch die Erfahrungen der Opferinitiativen und kirchenunabhängige Hilfsangebote berücksichtigt?

- Gibt es – analog zu Österreich – konkrete Überlegungen und Vorschläge zur finanziellen Entschädigung der Betroffenen und zur Erstattung von Therapiekosten?

Am Karfreitag (2. April 2010) haben viele Bischöfe schwere Fehler im Umgang mit den Opfern sexualisierter Gewalt zugegeben. Aber auch danach haben die Auseinandersetzungen um die Verantwortlichkeit z.B. zwischen dem Münchener Erzbistum und dem Kloster Ettal sowie im Missbrauchsfall Birnau des Freiburger Erzbistums kein überzeugendes Beispiel für das Aufdecken der Wahrheit und eine „Aufklärung, frei von falscher Rücksichtsnahme“ (Zollitsch) gegeben. Zu befürchten ist, dass auch in anderen Bistümern noch viele Altfälle der Aufklärung harren, in denen pädokriminelle Priester wieder in der Gemeindearbeit eingesetzt worden sind.

Notwendigkeit, die der weltweiten Krise zugrunde liegenden Strukturen aufzudecken

Die Skandale in den USA, Irland, Belgien und in vielen anderen Ländern zeigen, dass sich die römisch-katholische Kirche weltweit in der wohl größten Krise seit der Reformation befindet. Diese Krise wird nicht gelöst werden können, solange nicht die zugrunde liegenden Strukturen aufgedeckt werden, die zur sexualisierten Gewalt und ihrer oft jahrzehntelangen systematischen Vertuschung führen. Die Zölibatsverpflichtung – die mittlerweile sogar von einigen mutigen Bischöfen und Kardinälen in Frage gestellt wird und allein schon aus pastoralen Gründen dringend diskutiert werden muss – kann zwar nicht monokausal und zwangsläufig für alle Vergehen verantwortlich gemacht werden. Doch ist der erzwungene Zölibat und die Beschränkung des Priesteramtes auf Männer Ausdruck der Sexual- und Frauenfeindlichkeit einer männerbündischen Kirche, die sexualisierte Gewalt fördert und ihre Vertuschung ermöglicht.

Notwendig sind deshalb auch eine grundlegende Änderung in der Einstellung zur menschlichen Sexualität und eine Enttabuisierung der Sexuallehre (z.B. der Homosexualität), die Aufhebung der Ausgrenzung von Frauen für jedes Weiheamt sowie die Einbindung aller Gläubigen in Leitung und Entscheidungen der Kirche. – Der 2007 verschärfte und erst kürzlich vom Vatikan veröffentlichte Strafkatalog, der sinnvollerweise eine Verlängerung der Verjährungsfristen vorsieht, ist allerdings ein sehr halbherziger Reformschritt, da er die „versuchte Weihe (Ordination) einer Frau“ auf eine Stufe mit dem sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Priester stellt.

Dem Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes SJ, und dem damaligen Provinzial der deutschen Provinz des Jesuitenordens, Stefan Dartmann SJ, die am 28. Januar 2010 zum ersten Mal die Betroffenen zum Sprechen ermutigt haben und gleichzeitig die notwendigen Fragen nach den zugrunde liegenden Strukturen gestellt haben – ein Thema, das vor 15 Jahren auch einer der Auslöser für das KirchenVolksBegehren in Österreich war –, ist für ihren mutigen Schritt zu danken. Allerdings ist die Sprachlosigkeit der römisch-katholischen Kirche gegenüber einer menschengerechten, verantwortlichen Sexualität noch lange nicht überwunden. Und es fehlen Rituale der Versöhnung auf einer persönlichen Ebene. Die Vergebungsbitte des Papstes zum Ende des Priesterjahres (11. Juni 2010) reicht nicht aus, denn Vergebung kann nur gewährt werden, wenn auch wesentliche strukturelle Veränderungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche vorgenommen werden als unabdingbarer Schritt zur Prävention.

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Buchtipp: „Macht, Sexualität und die katholische Kirche. Eine notwendige Konfrontation“

Die von Wir sind Kirche mitherausgegebene deutsche Übersetzung des Buches des australischen Bischofs Geoffrey Robinson ist vor Kurzem in der Publik-Forum-Edition erschienen (ISBN: 978-3-88095-196-9).

Wir sind Kirche-Positionspapier „Sexualität als Leben spendende Kraft“ vom November 2008: www.wir-sind-kirche.de/

Wir sind Kirche-Nottelefon bei sexualisierter Gewalt in der Kirche Über das 2002 von der KirchenVolksBewegung eingerichtete Nottelefon wurden in den vergangenen acht Jahren 400 Betroffene intensiv beraten und begleitet. Diese Arbeit wird weitergeführt werden, bis in allen Bistümern unabhängige und kompetente AnsprechpartnerInnen benannt werden und bis die jahrzehntelang verschwiegenen und vertuschten Missbrauchsfälle aufgearbeitet sowie mit durchgreifenden, sichtbaren Maßnahmen neue Fälle so weit wie möglich verhindert werden.

Zuletzt geändert am 29­.01.2014