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Veröffentlicht am 22­.09.2010

22.9.2010 - Süddeutsche Zeitung

Missbrauchsbeauftragte Bergmann: Kirche soll zahlen

2500 Opfer suchen Hilfe

Von F. Heckenberger , K.Prummer und D. Stawski

Berlin/München – Amely Wahnschaffe hört fast jeden Tag, wie die Opfer gelitten haben. Die Psychologin ist eine von 65 Mitarbeitern in der von der Regierung eingerichteten Anlaufstelle für Fälle sexuellen Missbrauch. Zwei Stunden dauert solch ein anonymes Telefonat mit einem Opfer meist. „Wenn sie einmal anfangen, hören die meisten nicht mehr auf zu erzählen“, sagt Wahnschaffe.

2500 Briefe, E-Mails und Anrufe sind bislang bei der Anlaufstelle für Missbrauchsopfer in Deutschland eingegangen. Das gab die von der Bundesregierung eingesetzte Missbrauchsbeauftragte, die frühere Familienministerin Christine Bergmann, in ihrem Zwischenbericht in Berlin bekannt. Die Anlaufstelle wurde im Mai als Reaktion auf die Missbrauchsfälle vor allem in der katholischen Kirche eingerichtet. Laut des Berichts sind 91 Prozent der Opfer über einen längeren Zeitraum hinweg misshandelt worden. Mehr als die Hälfte der Anrufer vertrauen sich über die Hotline zum ersten Mal überhaupt jemanden an. Die Betroffenen beklagen das mangelnde Beratungsangebot, vor allem für Männer und in ländlichen Gegenden.

In fast der Hälfte der Fälle fand Missbrauch im Umfeld einer Einrichtung wie der Kirche oder der Schule statt, davon wiederum mehr als 60 Prozent in der katholischen Kirche. Bei der überwiegenden Mehrheit liegt die Tat zwanzig Jahre oder länger zurück. Etwa die Hälfte der Betroffenen bestehen auf eine Entschädigung in Form von Therapien und Geld.

Bergmann forderte die Deutsche Bischofskonferenz am Dienstag auf, Vorschläge für eine finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu machen. Die katholische Kirche müsse sich ihrer Verantwortung stellen, sagte Bergmann der Süddeutschen Zeitung . „Man muss nicht auf den Runden Tisch warten.“ Damit kritisiert Bergmann Äußerungen des Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch. Er hatte zu Beginn der Vollversammlung der Bischöfe, die diese Woche in Fulda stattfindet, gesagt, die Bischöfe werden zwar über finanzielle Entschädigungen diskutieren, aber: „Wir wollen nicht über konkrete Zahlen sprechen.“ Man wolle dem von der Bundesregierung eingesetzten Runden Tisch nicht vorgreifen. Dieser tagt am 30. September. Bergmann jedoch drängt: „Ich finde es gut, dass man dort, wo die Verantwortlichkeiten klar sind, eben nicht wartet, bis der Runde Tisch mit einem Vorschlag kommt.“ Sie begrüßte den Vorstoß des Jesuitenordens, der finanzielle Entschädigungen für die Betroffenen in Aussicht gestellt hat.

Damit erhöht sich der Druck auf die deutschen Bischöfe. Die katholische Kirchenvolkbewegung „Wir sind Kirche“ kritisierte am Dienstag, die Bischöfe wichen einer Entscheidung über die finanzielle Entschädigung aus. „Die Menschen erwarten ein deutliches Ja und kein Vielleicht“, sagte Christian Weisner von der Organisation. Dass die Bischöfe bei ihrer Vollversammlung vor allem darüber reden wollen, wie Missbrauch zukünftig verhindert werden kann, beurteilen Betroffene als „Ausflucht“.

Matthias Katsch von der Initiative „Eckiger Tisch“, in der sich von Jesuiten missbrauchte ehemalige Schüler zusammengeschlossen haben, sagte: „Erst muss die Kirche die Vergangenheit aufarbeiten.“ Die Initiative hat das Angebot des Jesuitenordens, ein Schmerzensgeldes in Höhe von 5000 Euro, zurückgewiesen. Sie fordert pauschal etwa 82 000 Euro und hofft, dass die Bischöfe zu einem Gespräch in dieser Woche bereit sind.

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und ihre Kolleginnen aus dem Justiz- und Bildungsministerium haben angekündigt, sich am 10. November mit Missbrauchsopfern zu treffen. Mittlerweile werden die Anrufe sowohl in Bergmanns Büro als auch bei der von der Deutschen Bischofskonferenz angebotenen Hotline weniger. Um weitere Betroffene zu ermuntern, sich zu melden, startet die Bundesregierung eine Fernseh- und Anzeigenkampagne. Den TV-Spot unter dem Motto „Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter“, drehte der Regisseur Wim Wenders.

Zuletzt geändert am 26­.09.2010