| |
Veröffentlicht am 24­.01.2011

24.1.2011 - Stuttgarter Nachrichten

„Die Bremser bestimmen das Tempo“

Christian Weisner von der Kirchenvolksbewegung wirft den Bischöfen mangelnde Aufklärungsarbeit im Missbrauchsskandal vor

Heute trifft sich der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz in Würzburg. Der Missbrauchsskandal wird zentrales Thema sein. Christian Weisner, Mitbegründer der Kirchenvolksbewegung, kritisiert die geringe Bereitschaft der Kirche zur Aufklärung und Reform.

Von Markus Brauer

Herr Weisner, vor einem Jahr wurde der Brief von Klaus Mertes, dem Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, veröffentlicht, der den Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche ins Rollen brachte. Welche Bilanz ziehen Sie?
Dieser Brief hat eine Lawine losgetreten. Im letzten Jahr ist deutlich geworden, wie tiefgreifend und wie lange die sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in der Katholischen Kirche verankert war. Wie viele andere auch war ich schockiert. Der Missbrauchsskandal hat gezeigt, wie dringend notwendig es ist, dass sich die Kirche endlich dem Zusammenhang von Macht, Missbrauch und Sexualität stellt. Das führt zu Fragen der kirchlichen Struktur, des Zölibats und der versteckten Homosexualität, die aufgearbeitet werden müssen. Das wird ein langer Prozess sein. In diesem Jahr ist erst das Rezept ausgestellt worden für die Psychoanalyse der Kirche. Aber die Analyse hat noch nicht einmal begonnen.

Nach außen präsentiert sich die Kirche als Aufklärer. Wie sieht es hinter den Kulissen aus? Wird weiter vertuscht und verheimlicht?
Die Kirche muss sich als große Institution der Öffentlichkeit gegenüber verantworten. Es braucht aber auch Reformbewegungen, die an die Bischofstüren klopfen und sich dafür einsetzen, dass das Thema Missbrauch nicht unter den Teppich gekehrt wird. Die Bischöfe sind alarmiert über die hohen Austrittszahlen. Zu Recht: Es sind nicht nur die Randständigen, sondern die Aktiven, die sagen, dass sie diese Kirche nicht mehr finanziell unterstützen möchten, und gehen.

Sorgen sich die Bischöfe überhaupt um die Ausgetretenen, oder geht es ihnen nur um den Machterhalt des Systems Kirche?
Vertrauen ist ein unschätzbares Gut. Wenn das Vertrauen in die Kirche nicht mehr vorhanden ist – das Vertrauen, dass ich mein Kind auf eine kirchliche Schule oder in einen kirchlichen Kindergarten schicken kann –, hat die Kirche ein ganz großes Problem. Solange sie keine glaubwürdigen Antworten auf den Missbrauchsskandal und seine Ursachen liefert, ist sie gelähmt und kann ihrer eigentlichen Aufgabe nicht gerecht werden.

Halten Sie die Antworten, die die Bischöfe bisher gegeben haben, für ausreichend?
Nein! Papst Benedikt XVI. hat eine Richtung vorgegeben – wenn auch zu spät und zu schwach und nicht von der römischen Kurie unterstützt. Der Papst steht für null Toleranz. Diese Linie wird aber nicht von allen deutschen Bischöfen getragen. Besonders enttäuschend war, dass es die Bischöfe 2010 nach Ankündigung einer Dialoginitiative durch den Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch nicht vermochten, den versprochenen Brief an die Gemeinden zu verfassen. Diese Sprachlosigkeit zeigt, dass noch nicht alle Bischöfe den Ernst der Lage erkannt haben und bereit sind zu handeln.

Welche Rolle spielen die Bischöfe?
In der Bischofskonferenz gibt es unterschiedliche Richtungen. Die Bremser sind zwar in der Minderheit, bestimmen aber das Tempo. Damit schaden siedem Ansehen der Kirche in Deutschland unendlich. Das Beispiel des zurückgetretenen Augsburger Bischofs Walter Mixa hat in erschreckender Weise gezeigt, wie ein Bischof die ganze Bischofskonferenz bis hin zum Papst vorführen kann. Solange die Oberhirten nicht geschlossen und nachprüfbar eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und einen Dialog als vertrauensbildende Maßnahme ohne Denkverbot anstoßen, wird das kirchliche Ansehen weiter schwinden.

Das hört sich nach Scheinheiligkeit an?
In der Tat ist es scheinheilig, sich über die zunehmende Säkularisierung zu beklagen. Sie ist selbst verschuldet, weil man mit der Wahrheit, die die Katholische Kirche immer für sich in Anspruch nimmt, selber so fahrlässig umgegangen ist.

Hat die Kirche Rezepte gegen den rapiden Schwund ihrer Mitglieder und Bedeutung?
Die Kirche hat den Anschluss an die Zeit und die wirklichen Nöte der Menschen verpasst. Was im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) angefangen worden ist, ist nicht weitergeführt worden. Der Dialog in der Kirche ist nicht umgesetzt worden und von Rom ausgebremst worden. Nicht das Konzil, sondern seine fehlende Umsetzung hat die Kirche in diese Krise geführt.

Das Erzbistum München hat als einzige deutsche Diözese die Missbrauchsfälle juristisch aufgearbeitet. Warum nicht die anderen?
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat mit dieser Aufarbeitung einen wichtigen Schritt getan. Vor allem sind die Hintergründe und Strukturen der Vertuschung im Missbrauchsbericht sichtbar geworden. Akten wurden nachlässig geführt, gezielt vernichtet und unter Verschluss gehalten. Von homosexuellen Erpressungen Vorgesetzter durch pädophile Priester ist die Rede. Der Bischof von Trier, Stephan Ackermann, sollte als Missbrauchsbeauftragter der Bischofskonferenz einen Gesamtbericht vorlegen. Den wird es anscheinend nicht geben, weil sich die Bischöfe nicht auf eineLinie einigen können.

Wie lange werden die Gläubigen sich diese Hinhaltetaktik noch gefallen lassen? Sind denn bis zu 300 000 Austritte im Jahr 2010 nicht ein eindeutiges Alarmsignal?
Ich kann jeden verstehen, der sagt, ich will der Kirche nicht mehr angehören, ich will dieses System nicht weiter unterstützen. Trotzdem vertreten wir von der Kirchenvolksbewegung die Meinung „Auftreten statt austreten“. Die Kirche darf nicht zu einem restaurativen Traditionalistenverein zusammenschrumpfen. Glaube und Kirche brauchen Gemeinschaft. Für mich persönlich ist ein Austritt keine Alternative.


Hintergrund: Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche
  • Die Austrittszahlen dürften sich im vergangenen Jahr gegenüber 2009 mehr als verdoppelt haben. Laut einer Umfrage kehrten in Augsburg bis Mitte Dezember 11 351 Katholiken der Kirche den Rücken (2009: 6953).
  • Im Bistum Rottenburg-Stuttgart traten bis Mitte November 17 169 Menschen aus (2009: 10 619). Im Bistum Trier verließen bis Ende November 7029 Katholiken ihre Kirche (2009: 4583).
  • Bei der im März 2010 eingerichteten Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt gab es bis zum 14. Januar 2010 insgesamt 25 693 Anrufsversuche und 4274 geführte Beratungsgespräche.
  • Aus dem im November vorgelegten Zwischenbericht geht hervor, dass von März bis Oktober 664 Hotline-Nutzer Sexualdelikte thematisierten, die im kirchlichen Umfeld stattfanden. 432 wurden durch Priester oder Ordensleute verübt.
  • 393 Übergriffe fanden durch nichtkirchliche Personen statt. 16,1 Prozent aller Opfer erklärten, einmal missbraucht worden zu sein, 68,8 Prozent mehrfach, 14,1 Prozent andauernd. (mb)

Zuletzt geändert am 24­.01.2011